Zwischen Manie und Melancholie

Roman | Leon Engler: Botanik des Wahnsinns

»Meine Familie hat ein Talent für Verrücktheit«, konstatiert der junge Mann, der sein Leben seziert und mal mit leichter Ironie, mal betont wissenschaftlich analysiert, systematisiert, als sei es eine Botanik des Wahnsinns. Doch wie kann man den familiären Prägungen entkommen, fragt Leon Engler in seinem Debütroman, der auf fantasievolle Weise Fiktion mit Faktenwissen vermengt. Von INGEBORG JAISER

Farbige Blüten zieren den Einband des Buches.»Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in der Bibel der Psychiatrie zu finden ist. In welche Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?«

Ahnenflüche und Erbkrankheiten

Ein junger Mann verzweifelt am psychischen Vermächtnis seiner Familie, auf der ein Fluch zu liegen scheint. Aufgewachsen mit unzuverlässigen Bezugspersonen, rotierenden Wohnorten und permanenten Ausnahmezuständen, will ihm auch als Erwachsener keine Kontinuität gelingen. Jemand, dessen Geburtstermin mit der Zwangsräumung des Elternhauses zusammenfiel, wird auch später kaum Wurzeln schlagen können. Wer bei einem vom lebensmüden Vater verursachten Autounfall durch die Scheibe flog, wird nicht nur körperliche Narben davontragen. Es gibt Familien, in denen Klinikeinweisungen, Entgiftungen, Notarzteinsätze zum Tagesgeschehen gehören wie andernorts ein Friseurbesuch. Der Werdegang des Sohnes scheint vorprogrammiert: »Mit elf Jahren kochte ich für mich selbst. Mit dreizehn Jahren zog ich betrunken und bekifft um die Häuser. Mit fünfzehn Jahren brachte mich die Polizei nach Hause. Mit siebzehn zog ich aus.«

Der blinden Flucht in andere Länder und Lebensräume folgt eine fast reumütige Rückkehr. Als der Protagonist schließlich selbst in der Psychiatrie landet, hat der längst die Seiten gewechselt und nimmt eine Stellung als ausgebildeter Psychologe an. »Ich bin übergelaufen. Es fühlt sich an, als sei ich meiner Familie in den Rücken gefallen.« Dennoch eine gelungene Gelegenheit, um (Auto)Fiktion mit Faktenwissen zu verschmelzen, das subjektiv Erlebte mit medizinischen Klassifikationssystemen, nüchternen Statistiken und Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu unterminieren. Einer der zahlreichen Versuche, den familiären Wahnsinn einzuhegen und zu verstehen. »Mythologisch formuliert: Ahnenflüche. Medizinischer: Prädispositionen, Gefühlserbschaften, Delegationen, Erbkrankheiten.«

Lieber verrückt als einer von euch

Wieviel Autobiographisches der bisherige Theater- und Hörspiel-Autor Leon Engler nach Abschluss mehrerer Studiengänge (unter anderem Psychologie in Köln) und erfolgreicher Teilnahme am Bachmannwettbewerb 2022 in seinen Debütroman verarbeitet hat, darf jeder Leser selbst ermessen. Klug und fundiert, aufwühlend und erhellend unterfüttern literarische und wissenschaftliche Quellen diese Botanik des Wahnsinns. Unter Anrufung kundiger Gewährsleute zwischen Christine Lavant (»Das Leben ist so heilig, vielleicht wissen Gesunde das nicht«), natürlich Ingeborg Bachmann und Siri Hustvedt (»Auf die eine oder andere Weise sind wir alle Erfinder unserer Vergangenheit«), unter Zitierung bekannter schriftstellerischer Größen zwischen Robert Musil und Thomas Bernhardt, zwischen Hilde Domin und Sylvia Plath (nach der sogar der Effekt benannt ist, dass Dichter häufiger an psychischen Erkrankungen leiden als andere Schriftsteller). Selten ist ein vorbelastetes Thema so umfassend und zugleich leichtfüßig umkreist worden wie in diesem Roman. Geschickt getarnt und in der Story integriert, findet sich das »Notizbuch des Nachbarn« als Literatur- und Quellenverzeichnis im Anhang. Selbst die irrwitzige Covergestaltung greift den Inhalt virtuos auf.

Zwischen Krankheit und Therapie, Vorbestimmung und Befreiung, zwischen zufälligen Koinzidenzen (»Mein Vater und die Psychoanalyse sind in Wien geboren«) und klammheimlichen Rückfällen steht der beherzte Versuch, eine Familiengeschichte des Schweigens neu zu schreiben. Allen Zweifeln, aller Verzweiflung zum Trotz. Wie das Abschiedsgeschenk für den ausscheidenden Psychologen und Ich-Erzähler: eine Kaffeetasse mit der Aufschrift »Lieber verrückt als einer von euch«.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Leon Engler: Botanik des Wahnsinns
Köln: Dumont 2025
206 Seiten. 23 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Erlesene Köstlichkeiten

Nächster Artikel

Sprachlos

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die Hauptstadt der Zwietracht

Roman | Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes »Was tut die Hand des Papstes, wenn sie nichts tut?« – Diese Beobachtungsaufgabe stellt sich dem Protagonisten, nachdem er den heiligen Vater am Karnevalssonntag 2011 ohne »autoritätsverheißende Tracht« in einer protestantischen Kirche antrifft. PETER MOHR rezensiert den neuesten Band des Büchnerpreisträgers F.C. Delius – Die linke Hand des Papstes.

Prellbock der Einsamkeit

Roman | Arnold Stadler: Rauschzeit Der Büchner-Preisträger Arnold Stadler ist weder als Vielschreiber noch als zeitgeistorientierter Autor bekannt geworden. Sein neuer Roman ›Rauschzeit‹ in einer Besprechung von PETER MOHR.

Herz ist Trumpf

Roman | Wolf Haas: Müll

Wolf Haas lässt seine Leser schon mal zappeln. Doch nach langer Wartezeit kehrt nun endlich Simon Brenner zurück, jener verschrobene, verkrachte Ermittler, der in derart abstruse Mordfälle verwickelt wird, dass sie jedes Krimi-Genre sprengen. In Müll, dem nunmehr neunten Band der skurrilen Serie, treten alte und neue Kollegen auf den Plan, ein Fuhrunternehmer mit achtzigprozentiger Blindheit und ein vietnamesischer Paketzusteller mit verdächtigen Aufstiegsambitionen. Von INGEBORG JAISER

Das Horn in der Brust

Krimi | Leonhard F. Seidl: Viecher Leonhard F. Seidl legt im neuesten Krimi so richtig los. Und auch sein Privatdetektiv Freddie Drechsler gerät in seinem zweiten Fall richtig in Fahrt. Im wahrsten Sinne des Wortes darf er mal richtig die Sau rauslassen, pardon, den Stier an den Hörnern packen. Viecher ist wie schon Genagelt (2014) wieder ein extrem mörderischer, zugleich bajuwarisch burlesker Text – eine Mischung aus gewohntem tiefschwarzen Politsumpf und tierischem Vergnügen. Von HUBERT HOLZMANN

Der Hammer verändert die Welt

Roman | Hansjörg Schertenleib: Jawaka Der abwechselnd in Irland und im Kanton Aargau lebende Schriftsteller Hansjörg Schertenleib hat sich auf völlig neues literarisches Terrain begeben. Der 58-jährige Autor, der zuletzt die von der Kritik hoch gelobten, dem Realismus verpflichteten und in der Gegenwart angesiedelten Romane ›Das Regenorchester‹ (2008), ›Cowboysommer‹ (2010) und ›Wald aus Glas‹ (2012) vorgelegt hatte, gehört zu den renommiertesten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Nun schickt uns Schertenleib auf ziemlich abenteuerliche Weise in die Zukunft: »Beim Schreiben merkte ich, dass mir die Welt, die ich da entwickelt hatte, viel besser gefällt als die Gegenwart.« – PETER MOHR hat seinen