/

Wenn alles aus dem Ruder läuft

Roman | Stefanie vor Schulte: Das dünne Pferd

»Warum muss er finden, was niemand finden will. Warum muss er wissen, dass die Menschen selbst schlimmer sind als alle Dämonen, vor denen sie sich grausen«, hieß es über den 11-jährigen Martin, Protagonist des bitterbösen und gleichzeitig hochmoralischen Debütroman Junge mit schwarzem Hahn (2021) aus der Feder von Stefanie vor Schulte. Als ihr 2021 in Hamburg der Mara-Cassens-Preis verliehen wurde, lobte die Jury: »Mit einer klaren und bildhaften Sprache, schafft es die Autorin, Vergangenheit und Gegenwart in einem zu bündeln, ohne sich in tagespolitische Aussagen zu verlieren.« Noch beklemmender und düsterer geht es nun im dritten Roman der 50-jährigen, in Marburg lebenden Schriftstellerin zu. Mit teilweise derbem Vokabular evoziert sie eine Atmosphäre der Angst. Von PETER MOHR

»Die Einrichtung ist seit Tagen unbewacht, der Parkplatz davor ohne Menschen, und also wagen sie es«, lautet der unspektakulär klingende erste Satz des Romans. Was dann folgt, hat ganz starken Gänsehautcharakter. Mit großem Erzähltempo führt uns die Autorin durch eine Mischung aus Dystopie und mit schwarzem Humor ausgemalter Western-Parodie.

Bei der unbewachten Einrichtung handelt es um ein Krankenhaus in einer namenlosen Stadt, in der alles aus dem Ruder gelaufen ist und ein totales Chaos herrscht. Die Protagonistin Aria Schulman, eine enorm willensstarke Krankenschwester, will sich mit ihrer Kollegin Marion dem drohenden Untergang widersetzen und tritt mit fünfzehn kranken Kindern, die von ihren Eltern nicht vermisst werden, in einem Bus die Flucht an. Sie will mit den Kindern ein altes Badehaus beziehen, das sie gekauft hat. »Am Meer einst von Lungenkranken mit schmachtendem Blick auf den Horizont erbaut.« Der gesundheitliche Zustand der Kinder verbessert sich in der neuen Umgebung, die allerdings alles andere als friedlich ist, denn von den ortsansässigen Cowboys (rund um deren rüden Anführer Imre Brandt) werden sie mit Argwohn beäugt. Überall scheinen Gefahren zu lauern, und rohe Gewalt gehört dort zum Alltag.

Die Hauptfigur will nicht nur die Kinder retten, sondern auch das titelgebende »dünne Pferd«, das denkmalhaft am Abhang einer Klippe am Meer verharrt. Kurze Rückblicke in Arias Jugend sind in die Handlung integriert und geben einen Einblick in ihr Seelenleben. Sie ist kämpferisch, dickköpfig, durchsetzungsstark und von einem immensen Beschützerinstinkt geprägt. Mit großem Mut stellt sie sich den Cowboys entgegen und findet in Jenny, der Schwester des Cowboy-Anführers Imre Brandt, sogar eine einflussreiche Verbündete.

In diesem von Angst dominierten Erzählfluss hat Stefanie vor Schulte einige herrlich skurrile Sequenzen eingefügt, so zum Beispiel, als ein Serienmörder in einer Tankstelle plötzlich von seinem eigenen Kampfhund angegriffen wird und in eine Tiefkühltruhe flüchtet.

»In meinen Roman geht es um alles«, hat die Autorin kürzlich in einem Rundfunkinterview bekannt. Und tatsächlich geht es um nicht weniger als einen drohenden Weltuntergang und um große Gefühle und um Idealismus in Reinkultur als Kontrapunkte zur Omnipräsenz der Gewalt.

Das Ende der Welt scheint greifbar nahe zu sein, doch Aria ist fest entschlossen, die Kinder und später auch das Pferd zu retten und zu beschützen. Über eine Frau namens Hayden, eine der vielen Nebenfiguren, heißt es: »Sie lacht mit zurückgebogenem Körper in den Weltuntergang hinein, und Aria vergöttert sie.« Kein Buch für den Nachttisch. Es ist über weite Strecken so beklemmend, dass akute Albtraumgefahr besteht. Nur bedeutende Literatur kann solche Gefühle auslösen.

| PETER MOHR

Titelangaben
Stefanie vor Schulte: Das dünne Pferd
Zürich: Diogenes 2024
242 Seiten. 21,99 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Stefanie vor Schulte in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Balanceakt der Gefühle

Nächster Artikel

»Digitale Spiele gehören in die Schule«

Weitere Artikel der Kategorie »Neu«

Balanceakt der Gefühle

Kalender | Arche Literaturkalender 2026 »Herz und Verstand« ist das Motto des neuen Arche Literaturkalenders für das Jahr 2026. Wer kennt das nicht, wenn man zwischen diesen beiden Polen, dem Gefühl und der Vernunft, manchmal hin- und hergerissen ist? Von BETTINA GUTIÈRREZ

Nach Hausmacherart

Comic | Martin Oesch: Fleischeslust

Im Comic ›Fleischeslust‹, der jüngst in der Edition Moderne erschien, geht´s um die Wurst. Er erzählt von Erwin, einem Metzger, dem die Kunden wegbleiben – als Milieustudie, Berufsporträt und Beziehungsdrama. Martin Oesch, Illustrator und gelernter Metzger, inszeniert den Band leichtfüßig und reichhaltig, humorvoll und menschlich. Von CHRISTIAN NEUBERT

Outing

Jugendbuch | Liv K. Schlett: Birk

Birk beschreibt sich selbst als ganz normalen, sechzehnjährigen Teenager, der zockt, Skateboard fährt, mit Freunden rumhängt und in ein Mädchen aus seiner Klasse verliebt ist. Aber da gibt es ein Geheimnis, das niemand erfahren darf. Aber irgendwann hält er den Druck nicht mehr aus. Von ANDREA WANNER

Sut erzählt (2)

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sut erzählt (2)

Als sich seit 1848 die Nachricht verbreitet habe, in der Wildnis um Sutters Mühle sei Gold zu finden, habe das Land einen nie erlebten Bevölkerungszuwachs erlebt. Kaum zwei Jahre seien vergangen, da hätten, sagte Sut, schon neunzigtausend Menschen in Kalifornien gelebt, und zwanzig Jahre später sage und schreibe eine halbe Million.

Allesamt eingewandert, fragte Bildoon.

Der beste Ort, sich aufzuhalten, sei das Meer, konstatierte Pirelli.

Judge GPT

Bühne | Judge GPT. Alles bloß Künstliche Iurisprudenz

Nach fast dreijähriger Corona-Pause und Auftritten in Metzingen, Bonn, Weimar, Bad Alexandersbad und Freiburg in den Jahren 2022 und 2023 versucht das Richterkabarett auch 2024 seine Sicht auf die Justiz und restliche Welt wieder durch Untertreibung zu vermitteln, weil die unmaskierte Wahrheit einfach zu unglaubwürdig wäre.