Im Schicksalssommer 1933 strandet Thomas Mann im südfranzösischen Exil in Sanary-sur-Mer. Doch das vermeintliche Idyll unter Palmen trügt. Während sich die politische Lage in Deutschland immer weiter zuspitzt, brodelt es gewaltig auch im innerfamiliären Gefüge der Manns. Florian Illies´ Wenn die Sonne untergeht ist sowohl als spannendes Zeitpanorama wie als psychologische Familienaufstellung zu lesen. Von INGEBORG JAISER
Jetzt hat er es gerade noch so geschafft, im Jahr des großen Thomas-Mann-Jubiläums: Florian Illies, Meister der erzählenden Geschichtsschreibung, hat zwar im letzten Quartal – doch rechtzeitig zu Beginn der dunklen Jahreszeit – Wenn die Sonne untergeht herausgebracht. Das ist klug terminiert. Denn größer könnte der gefühlte Unterschied im Setting auch für den Leser nicht sein. Hier das gleißende Licht und die Wärme Südfrankreichs, dort die Düsternis der Emigration für die nicht nur emotional zerrissene Familie Mann.
Die historischen Fakten sind bekannt. Im Februar 1933 kehren der Nobelpreisträger und seine Frau Katia von einer Lesereise nach Amsterdam nicht mehr nach Deutschland zurück. Nachmehreren Schweizer Stationen (anfänglich noch ein vermeintlicher Winterurlaub) wählen sie das französische Exil. Zu eindringlich sind nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten die Warnrufe aus Deutschland. Erst durch die politisch hellsichtigen älteren Kinder Erika und Klaus, später durch den Verleger Bermann Fischer, einem Mediziner, der seine Message entsprechend verschlüsselt: „Ich höre, dass Sie schon so rasch ihre Kur abbrechen wollen. Ich halte das vom ärztlichen Standpunkt aus für vollständig verkehrt.“
Drei Monate bei dreißig Grad
Es ist ein wundersamer Umstand, dass in Sanary-sur-Mer nicht nur die gesamte Familie Mann aus unterschiedlichen Fluchtrichtungen zusammentrifft, sondern dass sich in dem südfranzösischen Hafenort eine Exil-Community bildet, die sich liest wie das Who´s Who deutscher und österreichischer Geistesgrößen dieser Zeit: René Schickele, Arnold Zweig, Ludwig Marcuse, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, Bertolt Brecht. Der Schock, das Heimweh und die Trauer setzen ihnen allen zu. „Ich finde in diesem Kulturgebiet alles schäbig, wackelig, unkomfortabel und unter meinem Lebensniveau,“ schreibt Thomas Mann. Schon in den Wochen zuvor konnte er seine tiefe Erschütterung nur durch die „Lenzerheide-Mischung“ etwas lindern, einem abenteuerlichen Mix aus Präparaten, die heutzutage unter das Betäubungsmittelgesetz fallen würden (mit Ausnahme der Tolstoi-Lektüre). Dennoch fast eine Lappalie angesichts des beachtlichen Heroin- und Morphiumkonsums der älteren Kinder Erika und Klaus oder mancher Weggefährten.
Trotz des prekären Ausnahmezustands versucht man, die Form zu wahren. Beäugt kritisch die literarische Produktivität und die Amouren der Kollegen, fügt sich in neue Seilschaften, sucht Zerstreuung in Leseabenden, Sommerparties und Spaziergängen. Für die Mann-Kinder bedeutet die vorübergehende Schwäche des „Zauberers“ (wie ihn die drei älteren Geschwister nennen) oder des „Herrn Papale“ (im Diktum der drei jüngeren) eine Chance zur eigenen Emanzipierung, zum buchstäblichen Freischwimmen. Vor allem für das unterschätzte „Mönle“, der zweitjüngsten Tochter.
Unruhe und spätes Leid
Florian Illies kompiliert in gewohnter Manier und feuilletonistischem Stil Momentaufnahmen, Anekdoten und fiktionalisierte Szenen zu einem schillernden Kaleidoskop. Filmisch dargestellt und durchweg im Präsens erzählt, in einer unprätentiösen Unmittelbarkeit, die dem Leser suggeriert, er befände sich mitten im Geschehen. Doch was macht Florian Illies zum selbstsicheren Regisseur dieser Szenen? Akribische Recherchen und Auswertung historischer Quellen wie Briefe, Tagebauchaufzeichnungen, Fotografien, nicht nur der Familie Mann, sondern auch der Weggefährten. So erweist sich vor allem Katias Mutter Hedwig Pringsheim als gewitzte Briefeschreiberin („was eine olle Offi findet, gehört wohl zum Schnuppesten auf der Welt“). Nicht alles muss den Leser brennend interessieren – nicht das Beckenbodentraining Lion Feuchtwangers, nicht die Wortwahl von Heinrich Manns Freundin Nelly Kröger („sie nennt ihn tatsächlich immer Heini, als beackere er einen Rübenacker und nicht das edle Feld der deutschen Literatur“).
Im September 1933 verlässt die Familie Mann die unruhig gewordene Villa „La Tranquille“ und zieht nach Zürich. Der weitere, abenteuerliche Werdegang der restlichen Protagonisten könnte eine Reihe von Fortsetzungsbänden füllen. Genügend Potential für das nächste Projekt von Florian Illies? Ganz im Sinne von Thomas Mann, über den die Tochter Monika einst schrieb: „Manchmal (…) glaubt der Vater etwas zu erfinden, und er hat es erlebt, und manchmal glaubt er, etwas Erlebtes zu schildern – und hat es erfunden“.
| INGEBORG JAISER
Titelangaben
Florian Illies: Wenn die Sonne untergeht
Familie Mann in Sanary
Frankfurt am Main: Fischer 2025
336 Seiten. 26,00 Euro
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