Literarische Kammermusik

Kurzprosa | Peter Stamm: Auf ganz dünnem Eis

»Das Tragische gefällt mir, weil es mehr Nähe ermöglicht als das Komische, es ist viel gegenwärtiger«, hat der Schweizer Autor Peter Stamm vor einigen Jahren in einem Interview mit dem Zürcher Tages-Anzeiger erklärt. Der 62-jährige Stamm hatte zuletzt in seinem Roman In einer dunkelblauen Stunde (2023) von einem gescheiterten Filmprojekt, einer verlorenen Jugendliebe und den Geheimnissen des schriftstellerischen Schaffens erzählt. Sein Roman Agnes wurde 2016 von Johannes Schmid unter demselben Namen verfilmt. Beruhend auf der Kurzgeschichte »Der Lauf der Dinge« war 2019 der Spielfilm Was wir wollten« von Ulrike Kofler entstanden. Über mangelnden Erfolg und fehlende öffentliche Anerkennung kann sich der in Winterthur lebende Autor wahrlich nicht beklagen. Von PETER MOHR

Neun Erzählungen beinhaltet der neue Band. Zum »Programm« dieser Texte gehört es, dass es Stamm, dieser versierte Meister der Auslassungen, oft nur bei Andeutungen belässt. Was seine Figuren zu ihren oft irrationalen Handlungen treibt, was zwischen ihnen passiert, erzählt er nicht. Man spürt jedoch bei der Lektüre eine latent mit schwebende Hintergrundmusik aus unerfüllten Sehnsüchten. Es geht um Nähe und Distanz und ein Höchstmaß an Sprachlosigkeit. »Ich bin nicht allein, ich bin der Einzige.«

Die Grenze zwischen Tragik und Komik ist bei Stamm stets fließend. Die Geschichten sind auf den ersten flüchtigen Blick völlig unspektakulär, es wird von Durchschnittsmenschen mit völlig alltäglichen Lebensläufen und deren alltäglichen Problemen berichtet. Und irgendwann ereignet sich eine Zäsur, oft nur eine Kleinigkeit, eine Banalität, und danach ändern sich Biografien abrupt. »Wenn der Roman die Sinfonie ist, ist die Erzählung die Kammermusik. Das ist eine sehr konzentrierte Form«, hatte Stamm erklärt, der (durchaus vergleichbar mit Ralf Rothmann) ein großes Faible für dieses Genre pflegt.

Da sitzt eine Figur namens Laurin in einem Kellerverschlag und fühlt sich als Astronaut, ein in einer Indoor-Halle im Ruhrgebiet arbeitender Skilehrer lernt die Niederländerin Lieke kennen, und über Handynachrichten entsteht eine seltsame Romanze. Ähnlich geht es in der Titelgeschichte zu. Die nur leidlich erfolgreiche Schauspielerin Sarah, bei der Rollen und reales Leben immer stärker verschmelzen, lernt den Medizinstudenten Jonas kennen. Es ereignet sich kein emotionaler Funkenschlag, sie korrespondieren über ihre Handys – sogar, wenn sie auf einer Parkbank nebeneinandersitzen. Traditionelle vis-a-vis-Kommunikation scheint ein Relikt aus einer längst vergangenen Epoche zu sein.

»Mein Ziel ist erreicht, wenn die Leser nicht merken, dass sie ein Buch in der Hand halten, dass sie eine Art Tagtraum haben. Wenn das klappt, dann entsteht der Eindruck, es liest sich leicht«, hat Peter Stamm 2011 in einem NDR-Interview erklärt. Mit den meisten seiner Erzählungen des Bandes kommt er diesem Ziel sehr nahe. Überall knistert es ein wenig, gerade so, als wenn man sich lesend auf ganz dünnem Eis bewegt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Peter Stamm: Auf ganz dünnem Eis
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2025
191 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Peter Stamm in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Erkennungsmerkmale

Nächster Artikel

Märchen, in denen alle Platz haben

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Gedenken

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gedenken

Höchste Zeit, sagte Anne, höchste Zeit auch für eine feministische Kultur des Gedenkens.

Tilman beugte sich vor.

Unser Blick auf die Gegebenheiten hat zu wenig Struktur, sagte Anne, wir gedenken der Opfer des Terrorismus, der Opfer der Mafia, der Opfer von chemischen Waffen, der Opfer von Flucht und Vertreibung, wir etablieren einen Olympia-Tag, einen Tag des Jazz, einen Europa-Tag, das alles ist wichtig nebst vielem darüber hinaus.

Tilman schenkte Tee nach.

Doch bleiben diese Themen nicht letztlich beliebig?, fragte Anne.

Er stellte die Teekanne zurück auf das schlicht weiße, zierliche Stövchen.

Und? Was fehlt?, fragte er.

Lücken

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lücken

Die Situation sei verfahren, sagte Farb, zuallererst müsse man den trügerisch strahlenden Lack auflösen und einen Zugang zur Wirklichkeit schaffen.

Er warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen.

Das Maschinenwesen habe sich die Deutungshoheit angeeignet, dessen erdrückende Version der Wirklichkeit komme für den Menschen einer Gehirnwäsche gleich, und es werde ein lange anhaltender, schmerzhafter Prozeß sein, sagte Farb, ein verzweifelter Kampf, diese falschen Bilder zu brechen und die echte Version freizulegen, die Version des Menschen.

Sut lehnte sich zurück und lächelte.

Schwermut

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Schwermut

Die Worte wechseln, doch real ändere sich null, ob nun Trübsinn, ob Weltschmerz, ob Melancholie.

Seit mehreren Jahrzehnten behaupte sich Depression, gelegentlich auch burn out, doch burn out, so werde erklärt, sei graduell anders gewichtet, und letztlich wisse niemand Bescheid, unter welchem Namen auch immer.

Auf den einzelnen Fall komme es an, laute eine Standardfloskel, die Beziehung zwischen Arzt und Patient müsse stimmen, manch einer suche jahrelang nach einem passenden Psychiater und Therapeuten, und eine einheitliche Symptomreihe, die lediglich abzuhaken wäre, die gäbe es nicht.

Melancholischer Pessimist mit Humor

Menschen | 100. Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer Vor 100 Jahren (am 9. Dezember) wurde der Georg-Büchner-Preisträger Wolfgang Hildesheimer geboren. Von PETER MOHR

Faustrecht

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Faustrecht

Farb trug eine Schale mit Pflaumenschnitten auf, er hatte ein Blech gebacken, sie waren noch warm.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Verteilungskämpfe, sagte Tilman, wir erleben Verteilungskämpfe, der Planet ist abgewirtschaftet, seine Ressourcen sind erschöpft, die Situation ist dramatisch.

Farb tat sich vom Kuchen auf, nahm von der Sahne, strich sie sorgfältig glatt und sah mißmutig zu, wie sie sogleich an den Rändern zerfloß.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.