//

Lücken

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lücken

Die Situation sei verfahren, sagte Farb, zuallererst müsse man den trügerisch strahlenden Lack auflösen und einen Zugang zur Wirklichkeit schaffen.

Er warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen.

Das Maschinenwesen habe sich die Deutungshoheit angeeignet, dessen erdrückende Version der Wirklichkeit komme für den Menschen einer Gehirnwäsche gleich, und es werde ein lange anhaltender, schmerzhafter Prozeß sein, sagte Farb, ein verzweifelter Kampf, diese falschen Bilder zu brechen und die echte Version freizulegen, die Version des Menschen.

Sut lehnte sich zurück und lächelte.

Der Wind schien sich zu drehen. Termoth atmete befreit.

Wir stehen am Beginn einer gigantischen Umwälzung, sagte Farb, der äußere Anschein der Dinge, unser alltägliches Dasein, verläuft in falschen Bahnen, ihr versteht, wir haben uns im Irrtum eingerichtet.

Selbst Tilman war angefaßt und zögerte, über die Dimensionen der Täuschung auch nur nachzudenken. Sicher, ja, der Mensch konstruierte Waffen, todbringende Automaten, er führte verheerende Kriege, was falsch war und wovon jeder wußte, kein Zweifel, das alles lag offen zutage, es gab Aufbegehren, gewiß, doch was Farb vorbrachte, ging weit darüber hinaus, unser alltägliches Dasein, sagte er, ruhe auf falschen Fundamenten, gelegt vom Maschinenwesen.

Auch Annika war irritiert. Das mußte man erst einmal verstehen. Und nicht etwa, daß das Maschinenwesen gerade für den Alltag im Haushalt nicht reichlich geliefert hätte: für die Muttis die Waschmaschine, den Geschirrspüler, den Kühlschrank, für die Vatis die Bohrmaschine, den Mähroboter, alles Erleichterungen im täglichen Haushalt, und dennoch alles im Irrtum, falsch, trügerisch, was sollte man glauben, und vor allem, wo war eine Abzweigung, wo führte ein Weg hinaus.

Termoth lächelte.

Sut warf einen begehrlichen Blick auf den Pflaumenkuchen.

Ein Irrsinn, sagte Tilman, stand auf und holte eine Schale mit Schlagsahne aus der Küche.

Köder, sagte Sut, das Maschinenwesen legt Köder aus, über denen der Mensch sein Menschsein vergißt, Fotografie, Fernsehen, Pop, Smartphone, allesamt toxische Köder, immer wieder Köder, und der Mensch, auf der Jagd von einem Genuß zum nächsten, berauscht, in Raserei, atemlos, falle darauf herein, noch einmal und immer wieder.

Der Mensch wisse wenig, kein Zweifel, er könne eins und eins zusammenzählen, immerhin, ja, eins und eins gibt zwei, was sei denn daran zu verstehen, frage er, nichts, nein, er verstehe nichts, er finde schon gar nicht seinen Platz inmitten der Lebewesen, ziellos taumle er umher auf dem Planeten, grabe hier und dort im Boden, bohre Löcher, bastle dieses und jenes zusammen, versetze etwas von hier nach da und freue sich wie ein Schneekönig, solange die Dinge bunt seien und mit Geräusch verbunden, das lenke ihn ab.

Termoth lächelte. Ein Tropfen bringt das Faß zum Überlaufen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf. Sut, erklärte er, sei einer der Walfänger aus der Ojo de Liebre, und Termoth ein heimatloser Navajo, ein Schamane, ein Meister der Sandgemälde, nein, nicht vom Toten Meer, nein, am Toten Meer halte sich Sergej aus Murmansk auf, er spiele dort mit hohen Einsätzen Backgammon, wir müssen konzentriert bleiben und dürfen unsere bewährten Figuren nicht verwechseln, nein, nicht auf die leichte Schulter nehmen, keineswegs.

Das Maschinenwesen beschleunige unablässig, sein Fundament sei eine permanente Rastlosigkeit, das, sagte Termoth, gelte es zu verstehen, der Mensch werde durch das Leben gehetzt, atemlos, Tag für Tag ohne Ende, ein schillernder Schleier täusche und versperre den Blick.

Er werde krank, sagte Annika.

Er werde krank, sagte Termoth, seine Krankheit entziehe ihn der Hetze des Alltags.

Farb lächelte. Sie stehe ihm zur Seite, sagte er, sie sei sein wohlwollender Verbündeter, wir müssen einen veränderten Begriff von Krankheit fassen, sie erweise sich als zentraler Teil der Genesung.

Der sogenannte gesunde Mensch, spottete Tilman, sei nahtlos angepaßt an die Herrschaft des Maschinenwesens.

Wir müssen darüber neu nachdenken, sagte Annika.

Tilman lehnte sich zurück und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Ein gigantisches Maschinenwesen zusammengesetzt aus sehr vielen kleinen Haushaltsgeräten taumelt über eine wüste Ebene. Menschen rennen davon.

Man müsse das verstehen, sagte Sut, an dieser Stelle sei das Maschinenwesen verwundbar, die Schleier würden weichen, der Blick des Menschen werde frei, die Zusammenhänge definierten sich neu, und wie eine Lawine ergieße sich Leben in die alltäglichen Abläufe.

Spät kommt ihr, sagte Termoth, der Planet sei heruntergewirtschaftet, auf seine hergebrachten Kontinuitäten sei kaum noch Verlaß.

1 Comment

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von heiter bis nachdenklich

Nächster Artikel

Vorfreude

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Dabeisein II

TITEL.Textfeld | Wolf Senff: Dabeisein II

Wie es sich anfühle, fragte Bildoon, am eigenen Untergang teilzunehmen.

Vergiß es, sagte Touste.

Unangenehm vielleicht?, spottete Crockeye.

Tödlich?, schlug lachend der Zwilling vor.

Im Lauf der Zeit

Kalender | Literaturkalender 2021

Alles fließt (dahin) – Wochen, Monate, Jahreszeiten. Was könnte uns verlässlicher Halt und Orientierung bieten als Kalender? Unterlegt mit der passenden Dosis Literatur, mit anregenden Zitaten, aufmunternden Gedichten und spannenden Ausblicken auf bislang Unbekanntes erscheint das kommende Jahr schon greifbar nah. INGEBORG JAISER stellt einige empfehlenswerte Literaturkalender vor.

Gedenken

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gedenken

Höchste Zeit, sagte Anne, höchste Zeit auch für eine feministische Kultur des Gedenkens.

Tilman beugte sich vor.

Unser Blick auf die Gegebenheiten hat zu wenig Struktur, sagte Anne, wir gedenken der Opfer des Terrorismus, der Opfer der Mafia, der Opfer von chemischen Waffen, der Opfer von Flucht und Vertreibung, wir etablieren einen Olympia-Tag, einen Tag des Jazz, einen Europa-Tag, das alles ist wichtig nebst vielem darüber hinaus.

Tilman schenkte Tee nach.

Doch bleiben diese Themen nicht letztlich beliebig?, fragte Anne.

Er stellte die Teekanne zurück auf das schlicht weiße, zierliche Stövchen.

Und? Was fehlt?, fragte er.

Kosten & Nutzen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kosten & Nutzen

Eine der größten Ölpipelines in den USA wurde das Ziel eines Hackerangriffs. Der Betrieb der knapp neuntausend Kilometer langen Pipeline zwischen Texas und New York habe im Mai vorübergehend eingestellt werden müssen, teilte Colonial Pipeline mit, was zu erheblicher Versorgungsknappheit geführt habe, und konnte, wie es heißt, erst nach Zahlung von fünf Millionen Dollar Lösegeld wieder aufgenommen werden.

Am Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Ende

Zu guter Letzt wird alles einfach, sagte der Zwilling, wutsch!, und unsere Probleme sind vom Tisch.

Wie, unsere Probleme sind vom Tisch.

Vom Tisch. Weg. Nicht mehr da.

Sind gelöst?

Der Zwilling lachte.

Es gibt sie nicht mehr, verstehst du, sagte Crockeye.

Nein, sagte Bildoon, verstehe ich nicht.