Einmal quer durch Europa und durch mehrere Jahrzehnte springt Sten Nadolnys Herbstgeschichte, benutzt Züge, Kreuzfahrtschiffe, Segelboote und den Rollstuhl, vereint und entzweit Freunde, driftet durch das Zeitgeschehen, um sich am Ende als das Werk zweier Autoren zu erweisen. Erfunden ist mindestens einer davon – wie die ganze Geschichte. Von INGEBORG JAISER
Zugfahrten bergen seit jeher ein inspirierendes, leicht geheimnisumwittertes Motiv für literarische, künstlerische und cineastische Werke. So entfacht allein schon das Cover von Sten Nadolnys neuem Roman die Phantasie des Lesers. Wohin mögen wohl diese drei Passagiere reisen? Kennen sie sich bereits? Und welche Geschichte verbirgt sich hinter ihrer Fahrt?
Flucht nach Venedig
Genau hier setzt die Handlung von Sten Nadolnys Herbstgeschichte ein, wenn man vom listig vorangestellten Prolog des erfundenen Autors einmal absieht. Im Herbst 1998 besteigen zwei ehemalige Schulfreunde – der selbstbewusste Theatermann Bruno Gnadl und der von Zweifeln geplagte, hochsensible Schriftsteller Michael Waßmuß – den Intercity von Düsseldorf nach Zürich. Die gemeinsame Bahnfahrt soll ihre über Jahrzehnte eingerostete Freundschaft wieder auffrischen. Doch stattdessen machen sie eine aufregende neue Bekanntschaft: ihre Sitznachbarin im Zugabteil ist eine junge, bildhübsche Studentin mit erstaunlichem Personengedächtnis. »Super-Recognizer« vergessen kein Gesicht, erkennen es selbst in Menschenmengen und nach langer Zeit wieder. Genau diese seltene Gabe wird Marietta Robusti (ein viel zu klangvoller Name, den Bruno sofort als Pseudonym entlarvt) zum Verhängnis.
Ihre Flucht vor wiedererkannten Verfolgern führt über Zürich bis nach Venedig, mit Bruno und Michael als spontanen Wegbegleitern und selbsternannten Bodyguards. Denn längst haben sich die beiden Mittfünfziger in die mysteriöse, gut dreißig Jahre jüngere Marietta verliebt, die eigentlich Irina Meyer heißt. Doch in Venedig verschwindet sie spurlos. Erst vier Jahre später trifft Michael erneut auf Marietta, die inzwischen aufgrund eines traumatischen Ereignisses im Rollstuhl sitzt. Fortan kümmert sich Michael als väterlicher Freund und ehrenamtlicher Betreuer um die mittellose, arbeitslose, chronisch kranke Frau. Möglicherweise nicht ganz selbstlos? Denn im entscheidenden Moment brennt Marietta ausgerechnet mit Bruno durch.
Entdeckung der Langeweile
Erzählt wird diese Story von Titus, dem dritten Mann im Bunde – ebenfalls ein ehemaliger Schulkamerad, ein erfolgreicher Drehbuchschreiber und somit der anfangs erwähnte »erfundene Autor«. Durch ihn driftet das Geschehen in eine Meta-Ebene ab, in weitere Zeit-, Orts- und Perspektivenwechsel. So verwirrend für den Leser, dass er folgenden Satz am liebsten rot anstreichen würde: »Was ist denn der eigentliche Stoff, was ist die entscheidende Frage in dieser Geschichte?« Trotz aller sichtlichen Bemühungen und literarischer Tricks vermag der Funke nicht so recht überzuspringen. Schade.
Denn von Sten Nadolny ist man anderes gewohnt. Abgesehen von seinem liebenswerten literarischen Debüt Netzkarte sorgte Nadolny vor allem als Preisträger des renommierten Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs 1980 für Furore – mit einem Kapitel aus dem erst drei Jahre später erscheinenden, sich jedoch zum Longseller und modernen Klassiker entwickelnden Roman Entdeckung der Langsamkeit (bislang zwei Millionen Mal verkauft) und erst recht mit der Entscheidung, sein Preisgeld unter allen Teilnehmern aufzuteilen. Für seine nachfolgenden Werke wurde er im Literaturbetrieb mehrfach ausgezeichnet, vom Lesepublikum geschätzt und geliebt. Und wer sich an Eric Rohmers bittersüß-leichten Film Herbstgeschichte erinnert, wird auch Sten Nadolnys neuem Roman zunächst mit Neugier und Wohlwollen begegnen.
Doch Nadolnys Herbstgeschichte will zu viel und verzettelt sich in Liebesgeschichte, Odyssee, Kolportageroman und Zeitreise. Zu hölzern wirken manche Dialoge, zu konstruiert der Plot, zu lahm die milden Altherrenwitzchen (»Etwas bang ist mir auch. Kriegt der alte Knabe noch das Erhoffte hin?«). Im nachgestellten Epilog des nicht erfundenen Autors zieht Nadolny als Urheber und Schöpfer seiner Figuren noch einmal alle Register und spielt mit seinen Möglichkeiten, mit Querverweisen und Bezügen – sowohl zum eigenen Werk als auch zum eigenen Leben. Oder, wie er den Drehbuchautor Titus resümieren lässt: »An das Schreiben von Prosa habe ich mich bereits etwas gewöhnt, es hat ohne Frage Ähnlichkeit mit dem Segeln – ich bewege mich stetig, aber äußerst gemächlich voran, und ich muss eine Spur mehr Einsamkeit, Dauer, Langsamkeit und Rückenschmerzen aushalten als beim Verfassen von Drehbüchern.«
Titelangaben
Sten Nadolny: Herbstgeschichte
München: Piper 2025
238 Seiten. 24 Euro
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