Der Ort des zweiten Romans von Anja Kampmann ist Hamburg, ihre Geburtsstadt, Ort der Handlung ist die Reeperbahn. Dort hat sich die junge Protagonistin des Romans Hedda mit Anfang zwanzig im berühmten Varieté „Alkazar“ ihren Traum als Akrobatin erkämpft. Die Autorin legt in ihrem großartigen Roman einen besonderen Schwerpunkt auf die Varietés, auf die dunklen Hinterhöfe und die Bordelle und die Repressalien und Misshandlungen, denen die Frauen dort ausgesetzt waren, die Prostituierten, Akrobatinnen und Tänzerinnen jener düsteren Zeit. Von DIETER KALTWASSER
„Hamburg war nach der Weltwirtschaftskrise sehr arm und es gab viele Frauen, die einfach hungern mussten“, erfahren wir von Kampmann. „Viele von denen haben dann das Einzige verkauft, was sie noch hatten: ihren Körper. Ab 1933 wurden sie dann kriminalisiert, wurden in Heime gesperrt, wurden zur Arbeit gezwungen und auch zwangssterilisiert. Ich wollte eine Stimme finden, die davon erzählt, aber die vor allem eine starke Lebendigkeit hat.“
„Wir wissen so wenig über die Frauen am Rande der Gesellschaft“, erzählt die Autorin, die jahrelang für ihren historischen Roman recherchierte. Auf die Frage, warum sie gerade diese Zeit ab 1933 für ihr Buch gewählt habe, antwortete sie: „Ich hatte das Gefühl von einer Lücke; wir wissen wenig über die Menschen am Rande. Es ist der Moment eines gewaltigen Umbruchs. [….] die Leute gingen stempeln, und wie immer waren die Frauen von Armut besonders betroffen. Es reichte, dass man über ein Mädchen sagte, es sei »moralisch verkommen« um sie abholen zu lassen.“ Auch Hedda erfährt dieses Schicksal und sie wird zwangssterilisiert. Doch sie lässt sich nicht brechen. Hedda hat zwei Geschwister, der jüngere Bruder Pauli, der durch die ‚Englische Krankheit‘ im Gehen beeinträchtigt und leicht autistisch ist. Ihr Bruder Jaan, Geselle in einer Schmiede ihres Onkels Joist, heuert später als Harpunenschmied auf einem Walfänger an. Das Schiff wird in die Antarktis fahren.
Jeden Abend ist die Varietékünstlerin Hedda im Scheinwerferlicht, wenn sie sich am Seil hinunterlässt; sie ist eine der Hauptattraktionen des Abends: „Das Alkazar ist voll. Die Kapelle spielt und ich will denken, dass es so schön ist wie immer, rot und golden leuchtet der Saal, die bemalte Decke, der Rauch. Als wären da nicht die Ritas in den Logen, die blanken Scheitel der Männer, Uniformstoff, die Gehstöcke, die sie verstohlen in den Ecken verschwinden lassen. Ich kenne die Schwere ihrer Körper und ich weiß, dass ihre Kragen nicht sauber sind.“
Es sind die Jahre von 1933 bis 1937, von denen dieser Roman erzählt, als ein neues Publikum Einzug hält ins „Alkazar“. „Früher, wenn ich einen sah, in Uniform, oder einen Schläger, dann zog ich die Fußspitzen an, machte Schwimmbewegungen wie ein Frosch am Seil auf dem Weg nach oben. Dann wusste Arthur, dass etwas nicht stimmt. Aber jetzt kommen sie durch die Vordertür herein, wen soll man da noch warnen?“, erfährt der Leser von Hedda.
Denn mit Hitlers Machtergreifung ändert sich das Klima in Heddas Umfeld. Der Besitzer des Varietés Arthur gerät unter die Räder der Nazis und verliert das Theater. Nichts ist mehr wie zuvor, als in den dreißiger Jahren die neuen Uniformen wie selbstverständlich im Publikum auftauchen. „Jetzt kommen sie mit ihrem Rasselineal, das sie an alle anlegen“, sinniert die Protagonistin. „Wer jetzt noch bleiben will, muss ein bisschen deutschen Acker in sich tragen. Dumpfes Blut. Die gähnende Leere der Marsch.“
Die Figuren des Romans und die Handlungsorte haben zum Teil reale Vorbilder, wie das Nachtlokal „Alkazar“, das im Zentrum des Romans steht. Ab 1935 wurde es, der NS-Zeit angepasst, in „Allotria“ umgetauft. Auch die Attraktionen des Amüsierbetriebs wurden „arisiert“. Arthur Wittkowski, der Besitzer des „Alkazar“, gründet nach dem ersten Weltkrieg das Varieté.
Göring erhält im Roman den Namen „Herr Lametta“, benannt nach dem Lied von Claire Waldoff („Rechts Lametta, links Lametta, und der Bauch wird immer fetta“), Himmler ist „der Hühnerzücher“, Goebbels „Der Klumpfuß und Hitler kurz und bündig „der Schnäuzer“ genannt.
Anja Kampmann erzählt all dies in ihrem großartigen Roman in einer wortgewaltigen, bildhaften und auch poetischen Sprache. Sie wurde 1983 in Hamburg geboren, studierte an der Universität Hamburg und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Ihr erster Roman „Wie hoch die Wasser steigen“ (2018), wurde vielfach übersetzt, für den Preis der Leipziger Buchmesse sowie den Deutschen Buchpreis nominiert und war Finalist für den National Book Award in den USA. 2021 erschien der Gedichtband „Der Hund ist immer hungrig“, der mit dem Günter Kunert Literaturpreis für Lyrik ausgezeichnet wurde. Für ihr Werk erhielt sie 2024 den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis.
Die Autorin wird im März des kommenden Jahres für ihren Roman „Die Wut ist ein heller Stern“ mit dem Hans-Fallada-Preis ausgezeichnet. Dies teilten die Stadt Neumünster und der Carl Hanser Verlag vor kurzem mit. Kampmann wage mit ihrem Roman „ein atemberaubendes Erzählexperiment, indem sie in poetischer Sprache das Hamburg der 1930er-Jahre aus der Sicht der jungen Varieté-Artistin Hedda schildert“, heißt es in der Begründung der Jury. Der Carl Hanser Verlag erklärte, es handele sich um eine „Geschichte weiblicher Selbstbehauptung aus einer ganz und gar von Männern dominierten Zeit“. Der Hans-Fallada-Preis wird seit 1981 zweijährlich verliehen. Zu den bisherigen Preisträgern zählen unter anderen Günter Grass (1996), Wolfgang Herrndorf (2012) und Jenny Erpenbeck (2014). Kampmann darf zu einer der wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur gezählt werden.
In ihrem Nachwort zum Roman erfahren wir von der Autorin: „Diese Geschichte ist fiktiv, aber die Geschichten, die ihr zugrunde liegen, sind es nicht.“ Arthur Wittkowski, der Besitzer des Alkazars, verlor es an das NSDAP Parteimitglied Georg Leopold; von März 1946 bis 47 erhielt er es zurück, dann wurde es ihm wieder entzogen, Leopold führte es bis 1958 weiter. Käthe Petersen, im Roman „die Petersen“ genannt, in der Hamburger Sozialbehörde als Sammelpflegerin tätig, war verantwortlich für die Sterilisation und teilweise Entmündigung von 1100 Menschen. Sie wurde 1949 Oberregierungsrätin, später zur Leitenden Regierungsdirektorin ernannt und leitete wie in der NS-Zeit das Hamburger Landesfürsorgeamt. 1973 erhielt sie das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Käthe Petersen wurde nie angeklagt. Bis heute sind die Opfer weder anerkannt noch entschädigt.
| DIETER KALTWASSER
Titelangeban
Anja Kampmann: Die Wut ist ein heller Stern
München: Carl Hanser Verlag 2025
495 Seiten, 28 Euro
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