Vergebliches Streben nach Glück

Kurzprosa | George Saunders: Zehnter Dezember

George Saunders‘ meisterhafte Kurzgeschichten wirken gleichzeitig authentisch und alltäglich wie surreal und absurd. Die eben erschienene Sammlung Zehnter Dezember könnte tatsächlich zum besten Buch des Jahres werden. Von INGEBORG JAISER

Saunders DezemberGeorge Saunders zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autoren der Gegenwart. Selten waren sich Kritiker und Schriftstellerkollegen so einig in ihrem unverhohlenen Lob: »Der aufregendste Schriftsteller Amerikas« (David Foster Wallace), »Meister der Shortstory« (The Wall Street Journal), »Seit Twain hat es in Amerika keinen besseren Satiriker gegeben.« (Zadie Smith). Warum nur ist er in Deutschland ein weitgehend Unbekannter geblieben?

Kriminelle und Kriegsheimkehrer

Wer sich seinen abgedrehten Short Stories zum ersten Mal nähert – und die Sammlung Zehnter Dezember gilt dabei noch als relativ zahm und leicht konsumierbar – wird durch Irritation, Verwunderung, Ungläubigkeit, Staunen und Bestürzung geworfen. Mag das Buch vielleicht zunächst weglegen, um es wenig später, von heimlichem Schauder getrieben, erneut aufzuschlagen. So wie man als unfreiwilliger Zeuge eines Autounfalls gleichermaßen entsetzt den Kopf abwendet und dann doch wieder gebannt hinschaut.

Spielen Saunders Kurzgeschichten in der vagen Zukunft oder in unseren surrealen Träumen? Angereichert sind sie zumindest mit ausgefeilten Settings der wahrhaften Abgründigkeit: armselige Häuser und Wohnungen nah an der Verwahrlosung, trostlose Arbeitsplätze, schrottreife Autos. Doch die hoffnungsvollen Glückssucher, die verzweifelt nach oben Strebenden, die armseligen Kriminellen, Outlaws und Kriegsveteranen haben stets die Möglichkeit des Aufstiegs vor Augen: sei es in Form eines Lotteriegewinns, eines erfolgreicheren Nachbarn oder des scheinbar verbrieften Menschenrechts auf Glück.

Aberwitzige Nebenhandlung

Ständig oszillieren Saunders Protagonisten zwischen falschem Heldentum, untertäniger Speichelleckerei und anrührendem Willen zur Besserung. Da ist der bemühte, aber stets verschuldete Familienvater, der einen überraschenden Gewinn nicht zur Tilgung seiner Rückstände, sondern zur Umsetzung eines total verunglückten Gartenprojekts nutzt (gespickt mit einer aberwitzigen Nebenhandlung, die einen vor Ungläubigkeit erschaudern lässt).

Da ist ein Mörder, der seine vermeintliche Hafterleichterung in Form von neurologisch-medizinischen Versuchen nicht überlebt. Da ist der pummelige Junge aus der Titel-Story Zehnter Dezember, der bei klirrender Käte versucht, einen aus dem Krankenhaus ausgebüxten, schwerkranken, verwirrten alten Mann zu retten – und dabei selbst auf dem brüchigen Eis eines gefrorenen Sees einbricht. Als ob die Brüchigkeit, das latent nicht Tragfähige das Muster seiner gesamten Existenz sei.

Doppelbödig und grotesk

Geschickt mixt Saunders pseudowissenschaftliche Termini mit abgedrehtem Jugend-Slang, falsche Werbe-Claims mit nachlässiger Umgangssprache. Das macht seine Geschichten so echt, lebensnah, nachvollziehbar – und gleichermaßen doch satirisch, überzogen und abstrus. Als Leser befindet man sich permanent auf unsicherem Parkett. Jede Anwandlung von Idylle entpuppt sich als so doppelbödig und gruselig wie das abgeschnittene Ohr auf dem frisch gesprengten Rasen von David Lynchs Blue Velvet.

Ob man nun diese zehn Geschichten – die Frank Heribert übrigens kongenial und wagemutig übersetzt hat – am ehesten für Science Fiction hält, für abgründige Grotesken oder für etwas überzogene Stories aus dem amerikanischen Alltag, man mag gespannt sein, ob sich das Urteil des New York Times Magazine bewahren wird, das schon im Januar orakelte: »George Saunders hat das beste Buch geschrieben, das Sie dieses Jahr lesen werden.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
George Saunders: Zehnter Dezember
Aus dem Amerikanischen Englisch von Frank Heribert
München: Luchterhand 2014
272 Seiten. 19,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine wunderbare Wiederentdeckung

Nächster Artikel

30 Jahre »Strapazin«

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Kurze Momente der Emotionen

Kurzprosa | Juan Gabriel Vásquez: Lieder für die Feuersbrunst

Er ist momentan der erfolgreichste kolumbianische Schriftsteller und eine der wichtigsten jüngeren Stimmen des südamerikanischen Kontinents. Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa hat ihn hoch gelobt, und seine Romane sind schon in 16 Sprachen übersetzt worden. Die Rede ist vom 47-Jährigen Juan Gabriel Vásquez, der einst an der Sorbonne studiert hat, nun mit seiner Familie wieder in Bogotá lebt und im Sommersemester 2021 der 44. Samuel Fischer-Gastprofessor an der FU Berlin werden soll. Sein neue Erzählband Lieder für eine Feuersbrunst ist erschienen – gelesen von PETER MOHR

Hochgeschwindigkeit

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hochleistung

Das ist es, sagte Tilman, streckte die Beine lang und saß in diesem Sessel dennoch unbequem, er mußte sich in den nächsten Tagen nach einer verträglichen Sitzgelegenheit umtun, höchste Eisenbahn, weshalb findet sich für die einfachen Dinge stets so mühsam eine Lösung, er rückte ein Stück näher an den Couchtisch.

Farb tat sich einen Löffel Schlagsahne auf.

Annika warf einen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Zeit, daß wir umdenken, sagte Tilman.

Annika gähnte und wandte sich ihrer Zeitschrift zu.

Wir sind eine Hochleistungsgesellschaft, stimmt's?

Das ist nichts Neues, Tilman.

Höchstleistung in allen Bereichen.

Du sagst es.

Meer

Lite Ratur | Wolf Senff: Meer Das Meer ist tief, besonders zur Mitte hin, sagt man, nur wer wüsste zu sagen, wo sich die Mitte des Meeres findet oder ob es überhaupt eine hat. Ich könnte im Wasser nicht leben, das Meer ist mir fremd, nein ich habe in meinem Leben nie geangelt, auch Freunde von mir angeln nicht, ich kenne das Angeln vom Hörensagen.

Ausgespielt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausgespielt

Gramner habe das Thema satt, er würde sich darüber amüsieren, sagte der Ausguck, lachte, nahm kurz Anlauf und schlug einen Salto.

Sich so balanciert zu bewegen, so elegant, so scheinbar schwerelos, fragte Thimbleman, wie sei das möglich.

Der Ausguck lachte und erinnerte nur wieder an Gramners Worte: Eine Epoche tituliere sich als ›modern‹ und erwecke den Eindruck, alle früheren Zeitalter gehörten in die Mottenkiste.

Irre. Ein Marketing, das Maßstäbe setzt.

Gespannt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gespannt

In der Ojo de Liebre herrschten spezielle Umstände, man mag darüber denken, was man will, und die Fangpause hatte der Mannschaft zu guter Letzt ein Gefühl von Leichtigkeit verschafft oder immerhin eine Ahnung davon, wir gestatten uns kurz einen Blick zurück, vor allem Eldins verletzte Schulter hatte den Anlaß für diese Maßnahme geboten, wie sollte er in diesem Zustand eine Harpune werfen, andere hatten sich Zerrungen zugezogen, Schürfungen, Stauchungen, Kratzer.