Jugendbuch | Rachel van Kooij: Die andere Anna
Wir kennen sie, die schlimmen Nachrichten, wenn Angestellte in Jugendämtern die Gefahr für Kinder in den eigenen Familien unterschätzt haben und das Kind leiden muss. Denkt da niemand an das Wohl des Kindes, heißt es dann. Dass man das Kindeswohl auch als Vorwand für eigene Eitelkeiten, Machtrausch und blanken Egoismus benutzen kann, ist ein Thema, das weit seltener aufgegriffen wird. Rachel van Kooij erzählt in ›Die andere Anna‹ was geschieht, wenn Jugendamt und Pflegeeltern felsenfest entschlossen sind, sich eines Kinds zu bemächtigen. Von MAGALI HEISSLER
Anna und Tamara, vierzehn und achtzehn Jahre als, sind Schwestern. Allerdings tragen sie nicht den gleichen Nachnamen. Ihre Eltern haben wiederum einen anderen Namen. Anna und Tamara kamen als Pflegekinder. Die Pflegeeltern schenkten ihnen eine wunderbare behütete Kindheit, sie wurden rundum geliebt und gefördert. Ihre biologischen Mütter hätten das nicht geschafft, das wussten die beiden Mädchen schon immer. Die waren nicht gut für sie. Doch sie sind im Glück gelandet. Dafür darf man ja wohl ein bisschen Dankbarkeit erwarten.
Anna hat damit keine Probleme, sie liebt Mammi und Papa über alles. An ihre eigentliche Mutter kann sie sich nicht erinnern, das will sie auch gar nicht. Den Andeutungen von Mammi ist zu entnehmen, dass Schreckliches hinter ihr liegt. Warum soll Anna sich damit beschäftigen? Deswegen versteht sie auch Tamara nicht, die plötzlich bockt und richtig gemein wird zu den Eltern. Tamaras Entschluss, alles über ihre Herkunft zu erfahren, bringt auch Anna in eine Krise. Mit einem Mal ist nichts mehr, wie es war. Kann es sein, dass man sie über viele Jahre lang nur belogen hat?
Welche Anna bin ich?
Van Kooij wirft die Leserin mitten hinein in die verzweifelte Lage einer jungen alleinerziehenden Frau, die hilflos institutionalisierter Wohlfahrt ausgesetzt ist. Das Szenario ist von Anfang an beklemmend. Die Bedrängnis, das schiere Unrecht teilt sich beim Lesen so stark mit, dass die Lektüre ebenso schmerzlich wird, wie das Thema es eben ist.
Dagegen geschnitten ist das zunächst normal und recht glücklich scheinende Familienleben Annas, das zunächst vor allem durch die zickig gewordene ältere Schwester beeinträchtigt wird. »Typisches Aufbegehren eines Teenagers«, denkt man zuerst. Anna ergreift gleich Partei, für Mammi, natürlich. War sie nicht immer Mammis Mäuschen? Mammi liebt sie von Herzen, dessen ist sich Anna sicher. Dafür liebt sie Mammi, das ist genauso sicher. Tamaras Verhalten kann sie nun gar nicht verstehen.
Ausgerechnet Tamaras erste Entdeckung verunsichert sie. Tamara war kein Einzelkind, wie Anna, sie hatte eine Schwester. Warum haben die Eltern nicht Tamaras Schwester aufgenommen, als sie ein zweites Pflegekind wollten? Es ist doch schrecklich, Geschwister zu trennen. Die Eltern sind doch lieb. van Kooij zeigt Schritt für Schritt, wie die Verunsicherung ihre Protagonistin erfasst. Anna fängt an zu begreifen, dass es einmal ein kleines Mädchen namens Anna gegeben hat, deren Leben ganz anders war, als die Pflegeeltern ihr erzählt haben. Aber wer ist nun sie? Ihr fehlt ein Teil ihrer Geschichte, welche Anna ist sie?
Gestohlene Vergangenheit, gestohlenes Leben
Obwohl die Leserin weiß, was geschehen ist, nimmt das nichts von dem Schrecken, der das langsame Verstehen Annas begleitet. Sie handelt bald rabiat, aber auch das spiegelt nur die Rabiatheit wider, mit der andere über sie bestimmt haben.
Die Parteinahme van Kooijs ist eindeutig, dennoch gibt sie auch den Schuldigen Raum. Neben der Selbstgerechtigkeit bei der Entscheidung über das Leben anderer führt sie ein weiteres sehr heikles Thema ein, nämlich den Egoismus einer kinderlosen Frau, deren Kinderwunsch zur Obsession geworden ist und die deswegen das Kind einer anderen Mutter offiziell stehlen lässt. Dass das alles aus Liebe geschehen sein soll, macht sie zu einer gleichermaßen tragischen wie monströsen Figur. Das schildert die Autorin ohne Voyeurismus und Sensationslust, aber auch ohne falsches Mitgefühl. Das Gewebe aus Lüge und Täuschung zu entwirren wird zu einem regelrechten Krimi, der spannender kaum sein könnte. Tatsächlich geht es um die Aufklärung eines Verbrechens. Anna muss sich der Tatsache stellen, dass ihr mit ihrer Mutter auch ein Teil ihrer Vergangenheit gestohlen wurde und damit ihres Lebens. Sie gerät folgerichtig in eine Identitätskrise.
Die Frage von richtig und falsch in der Unterbringung von Pflegekindern wird zugleich am Beispiel Tamaras diskutiert. Sie muss sich damit auseinandersetzen, was aus ihr geworden wäre, hätte sie keine Pflegeeltern gefunden. Die Trennung von ihrer biologischen Schwester prägt aber auch sie.
Der Roman stellte Grundfragen zum Familienbild, zum Mutterbild und zur Macht von Ämtern über Einzelne, und sie werden hart formuliert. Dass tatsächliche Vorkommnisse in die Geschichte eingeflossen sind, macht die Lektüre nur bedrückender. Erzählt wird schlüssig und versiert, die Figuren werden nie zu Klischees, selbst hochemotionale Szenen sind ohne jeden Kitsch. Zugleich behält van Kooij Sichtweise und Ton von Teenagern bei. Ihnen gilt auch ihr Verständnis und ihre Zuneigung. Annas Ängste, ihre Verwirrung und Desorientiertheit sind schmerzlich überzeugend erzählt. Ihre Geschichte endet mit einem Ausblick auf bessere Zeiten. Aber nur ihre. Der letzte Blick der Autorin gilt einem Amtszimmer. Dort ist keine Änderung in Sicht.
Titelangaben
Rachel van Kooij: Die andere Anna
Wien: Jungbrunnen 2014.
100 Seiten. 16,95 Euro
Jugendroman ab 13 Jahren