Jugendbuch | Do van Ranst: Dünn
»Nicht schon wieder ein Buch über einen Teenager mit Essstörung«, mag man stöhnen, wenn man den Titel gesehen hat. Besser ist es, wenn man den Namen des Autors in Auge fasst. Dann ist nämlich klar, dass in einem Buch aus seiner Feder ganz bestimmt nicht das Offensichtliche abgehandelt wird. Das war bei ihm doch immer nur Mittel zum Zweck. So auch hier. Unter dem Aspekt der Essstörung erzählt Do van Ranst in ›Dünn‹ sehr berührend von den einsamen Menschen. Von MAGALI HEISSLER
Fee heißt die Protagonistin und so, wie sie zunächst durch die Geschichte schwebt, hat sie durchaus etwas Märchenhaftes. Ihre Kommentare allerdings sind zuweilen so giftig, dass eine Hexe neidisch werden könnte. Dazu ist Fee trotzig, schüchtern, frech und liebesbedürftig, alles von einem Moment auf den nächsten, kurz: ein Teenager.
Sie befindet sich in einer fremden Stadt, durch die sie gleichermaßen irrt wie flaniert, verlorenes Kind und Herrin ihres Schicksals in einer Person.
Sie könnte ihre Lage ändern, wenn sie zum Bahnhof ginge und den nächsten Zug nach Hause nähme. Aber das will sie nicht. Sie ist mit Absicht durchgebrannt und aus Wut. Sie möchte ihren Vater in Angst und Schrecken versetzen und, wie sich allmählich herausstellt, auch ihre Freundin. Warum sie das tut, erzählt Fee auch, sie fühlt sich angegriffen, unverstanden, abgelehnt. Ihre Anklage trägt sie sehr überzeugend vor.
Auf ihren Wegen durch die Stadt begegnet Fee Fremden, mit einer Mischung aus Scheu, Neugier und Sehnsucht nach Nähe geht sie auf Bekanntschaften ein. Das ist nicht ungefährlich und hat zur Folge, dass sich Fee immer mehr gedrängt sieht, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Das wiederum ist genau das, was sie nicht tun will, auf den Tod nicht. Ein Teil von Fee meint Letzteres durchaus ernst.
Lügengewebe
Van Ranst streut von Anfang an Zweifel in Fees Beschreibung dessen, was ihrer Meinung nach geschehen ist. Ihre Wahrnehmung der Welt um sie herum ist eigentümlich, nicht ganz realistisch, sie neigt zu magischen Interpretationen. Dass alles zugleich völlig realistisch wirkt, ist Folge der Erzählkunst des Autors. Fees Handlungen sind zunächst unverständlich, die Hinweise im Text geschickt versteckt. Nur langsam entwickelt sich im Kopf der Leserin der Verdacht, was hinter Fees Verhalten stecken könnte.
Deutlich spürbar ist dabei ihre wachsende Sehnsucht nach Gesellschaft, ihr Leiden an einer Einsamkeit, von der man bald nicht mehr sicher sagen kann, wer sie dazu verurteilt hat, andere oder sie sich selbst. Fee spinnt ein Netz aus Erfundenem, Eingebildetem und waschechten Lügen, das auch sie immer stärker fesselt. Sie ist aber nicht die Einzige, die in einem Lügengewebe haust.
Die Unfähigkeit, einander nahezukommen
Die Menschen, denen Fee begegnet, zeigen auf das Kernthema der Geschichte, die Unfähigkeit von Menschen, anderen nahezukommen. Gleich, ob jung oder alt, die Figuren sind einsam. Sie haben bestimmte Verhaltensweisen gelernt, die sie anwenden, weil sie glauben, damit einen Kontakt herstellen zu können. Tatsächlich aber fehlt ihnen das Wissen, wie man mit einem lebendigen Gegenüber umgeht. Sie handeln egoistisch und sind am Ende unfähig zu verstehen, warum auch die ganz neu begonnene Beziehung scheiterte.
Nur wer sich ehrlich auf andere einlässt, die eigenen Vorstellungen und Überzeugungen zurückstellt, kann eine echte Kommunikation aufbauen. Fähigkeiten entwickeln, miteinander umzugehen, heißt auch das Ende der Lügen.
Dass Lügen eingesetzt werden, um Änderung und Heilung herbeizuführen, ist ein weiterer Dreh der Geschichte. Ob, wer so handelt, recht hat, bleibt letztlich offen. Das ist richtig so, schließlich geht es um ein tatsächliches Problem. Das Leben lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen, auch nicht auf dem Papier. Das wäre schließlich gelogen. Das Ende dieser besonderen Erzählung um Bulimie und Einsamkeit, um Körper und Gefühlsstarre, weist aber auf eine positive Wendung. Auch das ist realistisch.
Übersetzt ist Fees Geschichte von Andrea Kluitmann so gut, dass man gar nicht merkt, dass man eine Übersetzung liest, jedes Wort sitzt. Der Schutzumschlag wiederum verwendet sehr einfallsreich ein wichtiges Motiv der Geschichte.
Rundum eine bemerkenswerte Leistung.
Titelangaben
Do van Ranst. Dünn (2006 Dun. Übers. von Andrea Kluitmann)
Hamburg: Carlsen 2014
192 Seiten, 12,90 Euro.
Jugendbuch ab 14 Jahren
Reinschauen
Leseprobe