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Scammon 3/3

Lite Ratur | Wolf Senff: Wale

Lassberg: Sie wurden 1825 geboren und verließen diese Welt im gesegneten Alter von sechsundachtzig Jahren. Nach Lage der Dinge ist kaum erklärlich, wie dieses Interview zustande kommt.
Charles Scammon: Ein Rätsel. Die Dinge sind, wie sie sind, das Leben steckt voller Geheimnisse.
Lassberg: Wäre es unhöflich, zu fragen, ob Sie sich wochentags eher im Himmel oder doch in der Hölle aufhalten?

whale-vertebra-bone-on-beach-725x484Charles Scammon: Mein Leben lang hatte ich pointierte Fragen zu beantworten, und ich war nie um eine Antwort verlegen. Mit Ihrer Frage jedoch weiß ich, ehrlich gesagt, nichts anzufangen.
Lassberg: Vielleicht bin ich irritiert, Herr Scammon, sehen Sie mir das bitte nach.
Charles Scammon: Kommen Sie endlich zur Sache, bitte.
Lassberg: Sie hatten zwei Brüder?
Charles Scammon: Jonathan Young Scammon war dreizehn Jahre älter als ich, er wurde Anwalt in Chicago, Finanzier, Pressetycoon und blieb bis zu seinem Tod einer der reichsten Männer der USA. Gut möglich, dass er in der Hölle schmort. Eliakim Parker Scammon war neun Jahre älter als ich und schlug nach seinem Militärdienst im mexikanisch-amerikanischen Krieg und seiner Entlassung 1856 eine akademische Karriere ein. Er lehrte als Professor für Mathematik in Cincinnati.
Lassberg: Vornehme Kreise.
Charles Scammon: Das kann man so sehen.
Lassberg: Und Sie, Charles, als Jüngster, Sie tanzten aus der Reihe?
Charles Scammon: Wer in aller Ruhe auf ein langes Leben zurückblickt, dem stellen sich die Dinge anders dar. Ich hatte freundschaftlichen Kontakt zu meinen Brüdern, solange sie lebten, was erwartet man mehr. Man konnte damals telegrafieren, und ich erinnere mich, dass wir uns alle paar Jahre ein- oder zweimal begegneten. Wir existierten, darin gebe ich Ihnen recht, in verschiedenen Welten. Nun nehme ich nicht an, Sie möchten mich über meine Familie befragen?
Lassberg: Die Konstellation mit drei Brüdern ist jedenfalls aufschlussreich; wenn Sie gestatten, komme ich später darauf zurück. Aber selbstverständlich ist Ihr Leben, Charles, für unsere Leserschaft von Interesse, und darin vor allem Ihre Jagd auf den Wal.
Charles Scammon (lacht): Ich war gerade dreißig geworden, als ich die ›Leonore‹ zur Magdalena Bay segelte. Das ist nun wirklich lange her.
Lassberg: Sie veröffentlichten ein umfangreiches Werk über Ihre Jagd auf den Grauwal.
Charles Scammon: Wir jagten nicht allein den Grauwal.
Lassberg: Ihre Publikation war ein Flop.
Charles Scammon: ..und vielleicht war das gut so. Ich war zwar enttäuscht, doch rückblickend war dies vor allem mein ambitionierter Versuch, es meinen Brüdern an gutbürgerlicher Seriosität gleichzutun, vergessen wir das.
Lassberg: Sie litten im Alter keine Armut.
Charles Scammon: Sie wissen vermutlich, dass ich bald nach Ausbruch der Sezessionskriege ein Schiff der Küstenwache vor San Francisco kommandierte und im Alter von siebzig Jahren aufgrund meiner angegriffenen Gesundheit von meiner Behörde in Pension geschickt wurde. Der Walfang war eine Episode in meinem Leben.
Lassberg: Mir fällt jedoch auf, dass er Ihr Leben prägte.
Charles Scammon (lacht): Darüber denke ich nicht nach.
Lassberg: Heutzutage denken die Leute über diese Dinge nach.
Charles Scammon: Und? Was wird dadurch anders? Stimmt es, dass der Mensch nie zuvor so verheerende Waffen besaß und so viel Unheil anrichtete wie in Ihrer Gegenwart?
Lassberg: Bleiben wir beim Thema.
Charles Scammon (lacht)
Lassberg: Waffentechnisch gesehen, waren Sie auf der Höhe der Zeit.
Charles Scammon: Absolut. Wir benutzten Greener’s Harpunengewehr, um die Leine in seinem Leib zu verankern, und schossen die Sprenglanze ab, sobald wir uns dicht genug herangezogen hatten. Sie riss eine klaffende, tödliche Wunde. Falls es erforderlich wurde, zwei oder drei davon. Ein Wal ist ein kluges Tier, verstehen Sie, die Natur widersetzt sich dem mörderischen Zugriff des Menschen, doch hier in der idyllischen Ojo de Liebre wähnte er sich in Sicherheit. Er hatte den Menschen bislang ja nicht kennengelernt, wir waren die ersten in dieser abgelegenen Lagune; das geriet uns zum Vorteil. So lief es damals. Wir hatten ihn 55 in der Magdalena Bay gejagt, das waren schwierige Umstände, und im Dezember 57 begann unsere erste Saison in der Ojo de Liebre. Die fest auf einem Fangschiff installierte Harpunenkanone wurde, soweit mir bekannt ist, erst in den frühen sechziger Jahren von einem Norweger erfunden.
Lassberg: Sven Foyn.
Charles Scammon: Wie gesagt, wir waren noch nicht so weit, aber auch so waren wir dem Grauwal überlegen. Er hatte nicht die geringste Chance.
Lassberg: Kein Lebewesen kultiviert seine Zerstörungswut so sehr wie der Mensch.
Charles Scammon: Todsicher war die Methode, eines der Walkälber abzuschießen, das Muttertier harrte dann bei dem Kadaver aus und wurde mühelose Beute. Wo er den Menschen bereits kennengelernt hatte, war er vorsichtig und suchte sein Heil in der Flucht. Er zog sich zurück. Wenn Sie es lieber anders hören wollen: Der Klügere gab nach.
Lassberg: Weshalb suchten Sie diese Lagune, die Ihnen doch so viel Ertrag einbrachte, lediglich dreimal auf?
Charles Scammon: Sie war nicht so ertragreich, wie Sie glauben. Es wird viel geredet, und auf das, was ein Seemann erzählt, ist in den seltensten Fällen Verlass. Ich sagte es, der Wal ist ein kluges Tier. Die Natur reagiert auf das destruktive Wirken des Menschen, sie sitzt, wenn ich das so formulieren darf, in jedem Fall am längeren Hebel, und letztlich ist es der Mensch, der die Folgen trägt. Er wird die Suppe löffeln, die er sich einbrockt. Der Wal hatte schnell spitz, welche Melodie ihm aufgespielt wurde. Oder anders formuliert: In der Ojo de Liebre hatten wir ihn ausgerottet.
Lassberg: Vielen Dank, Herr Scammon. Wir haben ernsthaftes Interesse daran, dieses Interview mit Ihnen fortzusetzen.
Charles Scammon: Es wäre lohnenswert, die Ereignisse der Reihe nach zu erzählen, verstehen Sie, die Jagd auf den Wal hat den Menschen verändert, vergessen Sie das nicht, sie gehört gewissermaßen zum UNESCO-Weltkulturerbe. (Er lacht.) Was das Interview betrifft, sicher, sollte sich eine Gelegenheit ergeben, gern. Selbstverständlich.

| WOLF SENFF

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