Getrübte Wahrnehmung

Jugendbuch | Sina Flammang: Mädchen aus Papier

Ein Schock kann dazu führen, dass man weder sich noch die Umgebung realistisch wahrnimmt. Das eigene Verhalten ändert sich dementsprechend. Sina Flammang erzählt eine solche Geschichte nicht nur von einem, sondern gleich von mehreren Teenagern, die infolge eines Schocks seelisch verletzt sind. Von MAGALI HEIẞLER

Flammang Maedchen aus PapierMari, fünfzehn, lebt mit ihren Eltern ein normales Familienleben. Tatsächlich jedoch ist nichts normal. Zwölf Jahre zuvor verschwand ihre Schwester, weder die Eltern noch Mari haben das überwunden. Die ältere Schwester nimmt immer noch so viel Raum ein, dass es für Mari unmöglich ist, ihren eigenen Platz zu finden. Nur nachts fühlt sie sich frei genug. Sie hat sich angewöhnt, bei Dunkelheit aus dem Haus zu schleichen und durch die Gegend zu streifen. Dass sie dabei den Nachbarsjungen trifft, ist ein Zufall.

Niklas’ Familie hat ihre eigenen Probleme, Niklas löst sie für sich auf nicht eben schöne Art. Mari ist fasziniert. Das ändert nichts daran, dass sie sich bei Tag verschwommen fühlt und die Welt als unscharf. Etwas leichter wird es während der Gruppenstunden, Treffen von Jugendlichen, die psychische Unterstützung brauchen, weil sie alle Geschwisterkinder verloren haben. Allerdings sind das nicht ihre einzigen seelischen Krankheiten. Ehe es Mari noch klar wird, wie genau es um ihre Freundin Clementine steht oder um Ole, den Neuen, wird ihre Schwester tatsächlich wiedergefunden.
Noch einmal gerät das ganze Gefüge durcheinander, sehr gefährlich dieses Mal.

Ganz schön viel

In ihren Roman hat Flammang ganz schön viele Themen gepackt, der typische Fehler bei Erstlingsromanen. Deswegen ist er auch viel zu lang geraten. Immerhin ist hier eher Einfallsreichtum der Grund und nicht nur Geschwätzigkeit. Einfallsreich sind viele Metaphern, lyrische Einschübe und die Überlegungen Maris, die wunderbar schräg daherkommen können. Es ist nur von allem zu viel, was die Lektüre bald anstrengend macht. Es passiert nämlich auch viel.

Die Leserin folgt strikt Maris Blick auf die Dinge, einen anderen gibt es nicht. Dadurch werden die Zwänge, denen das Mädchen sich ausgesetzt fühlt, deutlich, erschreckend deutlich zuweilen. In den Ängsten, Unsicherheiten, aber auch in dem steten Staunen über die höchst eigentümlich geregelte Welt der Erwachsenen, werden sich junge Leserinnen unschwer wiedererkennen. Ebenso in den Bemühungen, Zuneigung und Liebe zu finden und – ganz wichtig – auch zu geben. Gelungen ist die eigentlich nur skizzierte Darstellung der Schwierigkeiten, die auch die erwachsenen Figuren mit den komplizierten Geschehnissen haben. Ihre Unsicherheiten helfen Mari, ein bisschen sicherer zu werden und ihren eigenen Weg zu finden.
Hervorgehoben werden muss die stilistische Sicherheit in den Dialogen. Hier versucht sich keine in aufgesetztem Jargon. Hier sprechen Teenager miteinander, so, wie sie es tun, wenn sie untereinander sind und Erwachsene nicht dauernd in Hörweite. Clementines Übertreibungen, ihrem prekärem seelischen Zustand geschuldet, sind weitgehend realistisch, ebenso Oles Abwehr und die Abgebrühtheit von Niklas. Die Schweigsamkeit Annikas, der großen Schwester, wirkt im Kontrast dazu um so mehr.

Schwierig ist es eher mit den vielen, vielen Beschreibungen von allem und jedem. Das klingt zuweilen, als müsste die Autorin unentwegt herausstreichen, was sie alles weiß und kennt. Dabei ist das für die Leserin gar nicht wichtig.

Und am Ende?

Auch wenn die Handlungsfäden ordentlich geknüpft sind, wird es im letzten Drittel zu üppig. Die Fahrt nach Italien, der letzte große Ausbruch, mag seine Logik haben, im Gesamtkonzept ist sie überflüssig. Das blieb nicht unbemerkt, offenbar wurde hierbei stark gekürzt, was der Sache nicht aufhilft. Das gleiche gilt für einen Rückgriff auf eine Kindheitsfreundin Maris, ein Teil einer Nebenhandlung, bei der nichts ausgeschöpft wird, sondern alles in Effekten verbleibt. Überhaupt werden Effekte häufiger ab dem zweiten Teil. Die einzelnen Kapitel sind eingeleitet durch kurze Überlegungen Maris, Einschätzungen der und Urteile über die Welt. Sie sind philosophisch angestrichen, kommen aber recht apodiktisch daher als eine Art einsichtsvolle Wahrheit und offenbaren häufiger als nicht den doch eingeschränkten Blick sehr junger Menschen. Hier wird zu viel vorgedacht, statt die Leserinnen zum Denken aufzufordern.

Leerstellen sind dafür in den Charakterisierungen geblieben. Natürlich kreist Mari stark um sich selbst, dass sie aber so lange blind bleibt gegenüber der klaren Essstörung Clementines, ist nicht überzeugend im heutigen Kontext, wo schon leichtfertig von Magersucht gesprochen. Dass das kriminelle Verhalten von Niklas nicht stärker infrage gestellt wird, ist sehr angreifbar. Das schöne Motiv von Maris Kurzsichtigkeit geht leider auch verloren. Am Ende wird das Ganze dann doch sehr, sehr idyllisch. Das hätte die Geschichte gar nicht gebraucht.

Zeit und Geduld braucht man also und die Bereitschaft, sich gängeln zu lassen von der Erzählstimme. Dafür bekommt man ein dickes Buch mit einer Handvoll lebendiger Figuren, die für manche Überraschung gut sind.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Sina Flammang: Mädchen aus Papier
München: cbt 2017
345 Seiten. 16,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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