Jugendbuch | K.Kuick, Y. Karlsson: Schreib! Schreib! Schreib!
Zwei – eins – zwei – sechs – sechs. Das wird eine Geschichte. »Schreib!« lautet die Aufforderung, noch zweimal wiederholt, sodass sie wirklich dringlich wirkt, findet ANDREA WANNER und macht sich an die Arbeit.
Vor mir liegt ein Würfel. Einer genügt tatsächlich. Ich habe mich für den cremeweißen entschieden, auf dem die Zahlen noch gut erkennbar sind. Wahrscheinlich hat er noch nicht so viele Spieleabende erlebt wie der kleine rote, bei dem sich die fünf goldenen Punkte auf einer Fläche nur noch erahnen lassen. Dabei erinnere ich mich gut, an das Monopoly-Spiel, wo genau diese Fünf mich auf die Schlossallee und damit in den Ruin befördert hat. Zum Trost habe ich damals die Erdnüsse auf dem Tisch ganz alleine gefuttert, während die anderen sich einen hitzigen Kampf um den Sieg geliefert haben.
Aber es war nicht so schlimm, wie damals als ich etwa 8 Jahre als war und auch bei einem Spiel verloren habe. Was es war, weiß ich nicht mehr. Wo es war dagegen noch ganz genau. Und wie ich unglaublich traurig war und – das war das Entsetzliche – lachen musste. Später habe ich einen Vortrag über Pathologisches Lachen gehört und war erleichtert, dass es mir tatsächlich in meinem Leben nur zweimal passiert ist, lachen zu müssen, obwohl mir zum Heulen zumute war. Die andere Geschichte erzähle ich nicht, die ist mir viel zu peinlich.
Aber eigentlich war ich beim Würfel. Und beim Würfeln. Ich soll mir eine Person für meine Geschichte erwürfeln. Zwei – eins – zwei – sechs – sechs. Die ersten beiden Zahlen ergeben das Alter. Okay, mein Held ist 21 Jahre alt. Oder meine Heldin? Davon steht nichts in der Anleitung. Dann habe ich wohl freie Hand. Vielleicht schaue ich erst einmal, was die anderen Zahlen für meine Handlung bedeuten. Zwei: Sie wohnt in einer Großstadt. Mir fällt Berlin ein, aber Berlin kenne ich viel zu wenig, um eine Person in Berlin unterwegs sein zu lassen. Keine Großstadt kenne ich eigentlich so gut, dass jemand überzeugend in ihr unterwegs sein kann, öffentliche Verkehrsmittel nutzen, durch Parks schlendern und in Cafés sitzen kann. Sitzen 21jährige in Cafés? Darf ich nochmals würfeln? Sie hätte in einem verzauberten Garten wohnen können, das hätte mir eher gelegen. Verzauberte Gärten kenne ich. Kleine Türen in Baumstämmen, die zu den Wohnungen von Elfen und Zwergen führen, Schleichwege und Baumhäuser, in denen magische Objekte liegen, Zaubertränke, mit denen man sich unsichtbar machen kann…
Großstädte. Na ja, die größte Stadt, in der ich je gelebt habe, hat keine drei Millionen Einwohner. Als Städtereisende war ich natürlich schon in vielen Großstädten. Würde jemand, der in London lebt, einen Spaziergang von Charing Cross zu Big Ben und den Houses of Parliament machen? Könnte ich da eine Person unterwegs sein lassen, Bekannte treffen – trifft man in einer solchen Stadt überhaupt zufällig Bekannte? – oder würde ich die Person einfach nur daheim sitzen lassen? Big-city vibe oder Metropolitan Feeling? Krieg ich sicher nicht so gut hin. Aber vielleicht muss meine Person gar nicht so viel unterwegs sein …
Tja. Der nächste Wurf entscheidet, dass sie im Besitz einer Landkarte ist. Vielleicht ist es auch ein Stadtplan und die Person ist neu in der Stadt. Dann könnte ich mir auch einen Stadtplan besorgen und gemeinsam mit meiner Figur die Großstadt erkunden. Ich hab mich immer noch nicht entschieden, ob es eine junge Frau oder ein junger Mann ist. Aber ich weiß jetzt, dass sie oder er gerade erst in diese Großstadt gezogen ist. Dazu passt auch das Alter. Mit 21 ist man irgendwo neu. Hat Altes hinter sich gelassen und beginnt etwas Neues. Eine Ausbildung, ein Studium, eine Arbeit. Dann kann sich die Person so tastend und unwissend bewegen wie ich, vielleicht sogar zuerst mal auf dem Papier, WEIL alles so groß ist und man den Überblick zu verlieren droht.
Aber Stopp, ein Wurf ist noch nicht aufgelöst. Die zweite Sechs. Bei mensch-ärgere-dich-nicht wäre das ja echt super, gleich noch eine Sechs. Die letzte Zahl steht für das Geheimnis, das die Person hat. Wäre es eine Zwei gewesen, dann hätte sie eine Katze getötet. Ich kenne jemanden, der mal eine Katze getötet hat. Aber ich habe keine Zwei gewürfelt. Bei einer Fünf wäre die Person in ihren Zahnarzt verliebt. Ich weiß immer noch nicht, ob ich eine Heldin oder einen Helden für meine Geschichte suche. Meinen allen ersten Zahnarzt habe ich in den Finger gebissen. Da war ich fünf Jahre alt, der Zahnarzt hat geblutet und die Behandlung abgebrochen. Er war der Zahnarzt meiner Großeltern, was den großen Vorteil hatte, dass wir uns nie mehr begegnet sind und ich kein Zahnarzttrauma entwickelt habe. Aber mich auch nie in einen verliebt habe. Muss ich auch nicht. Und überhaupt habe ich eine Sechs gewürfelt und das bestgehütete Geheimnis meiner Figur ist, dass sie noch nie einen Brief geschrieben hat.
Das kann ich mir kaum vorstellen. Aus meiner Sicht. Weil ich immer viele Briefe geschrieben und bekommen habe. Aber das war auch im Zeitalter vor den Smartphones. Schreiben 21jährige heute noch Briefe? An wen? Und warum? Liebesbriefe? Bewerbungsschreiben? Geburtstagsbriefe an den Onkels und Tanten? Also, mein Held – ja, jetzt ist vor meinem Auge eindeutig ein 21jähriger junger Mann entstanden, mit blonden, wuscheligen Locken, der ein bisschen verloren in seinem möblierten Zimmer den Stadtplan in Händen hält. Der Akku in seinem Handy ist leer und er kann sein Ladekabel in den Umzugskartons nicht finden – hat jedenfalls noch nie einen Brief geschrieben. Das wird sich ändern. Und das wird meine Geschichte.
Oh. Eigentlich ist mein Job an dieser Stelle ja nicht das Schreiben von Geschichten, nicht mal das Suchen von Ideen für Geschichten. Sondern das Schreiben über Bücher. Ist hiermit geschehen. Ich bin der Anleitung von Katarina Kuick und Ylva Karlsson in ihrer kreativen Textwerkstatt gefolgt, wundervoll und zum Nichtsattsehenkönnen von Sara Lundberg illustriert. Na ja, ich habe eine Anregung, gleich die allererste, aufgegriffen und gewürfelt. Die beiden haben noch viel mehr zu bieten, bunt zusammengewürfelt mit Ideen für Horrorgeschichten, Bildgeschichten, Vorschlägen für Trauriges, Alltägliches, Dramatisches, Lustiges, Fantastisches, Banales und Möglichkeiten, das sprachlich zu gestalten.
Das Inspirationsbuch ist bereits 2009 auf Schwedisch erschienen. Jetzt hat Gesa Kunter diese ganzen Insider-Tipps und Ideen ins Deutsche übersetzt – sonst wäre ich mit meinem Würfel blöd da gestanden. Sie hat es also getan und dafür den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie ›Neue Talente‹ gewonnen. Stort grattis! (das ist Schwedisch und heißt hoffentlich »Herzlichen Glückwunsch!« – ich muss mich jetzt um meinen jungen Mann in der Großstadt kümmern.)
Titelangaben
Katarina Kuick und Ylva Karlsson: Schreib! Schreib! Schreib! Die kreative Textwerkstatt
Mit Illustrationen von Sara Lundberg
(Skriv om och om igen, 2009). Aus dem Schwedischen von Gesa Kunter
Weinheim: Beltz & Gelberg 2018
144 Seiten, 14,94 Euro
Ab 14 und für alle, die Lust aufs Schreiben haben
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