Jugendbuch | Rindert Kromhout: Brüder für immer
Die Geschichte großer Familien hat etwas Faszinierendes. So viele Menschen, so viele individuelle Schicksale und dennoch gehören alle zusammen. Ist die große Familie auch noch eine berühmte, ist die Anziehungskraft unwiderstehlich. Rindert Kromhout, einer der bekanntesten unter den niederländischen Autorinnen und Autoren von Kinder- und Jugendbüchern, hat für seine Geschichte eine ganz besondere Familie ausgesucht und Episches vorgelegt. Von MAGALI HEISSLER
Als die Eltern beschließen, aufs Land zu ziehen, herrscht helle Begeisterung. Der Anblick des völlig verwilderten Gartens und das heruntergekommene Haus dämpfen die Stimmung ein wenig, aber nicht lange: Die Abenteuerlust ist zu groß, nicht nur bei den jüngeren Mitgliedern der Familie. Bei der »Familie«, das ist von Anfang an klar, handelt es sich um Angehörige jenes kleinen Kreises, der als Bloomsbury Group in die Literatur – und Kulturgeschichte eingegangen ist. Kromhouts Augenmerk liegt dabei auf den Bells, der Malerin Vanessa, ihrem Mann, dem Journalisten und Kritiker Clive und den Söhnen Julian und Quentin. Quentin wird der Erzähler.
Was man zu lesen bekommt, ist Quentins Lebensgeschichte, seine Entwicklung vor allem zum Schriftsteller. Das ist kein Zufall, Schreiben ist die Profession eines guten Teils der Verwandten, Freundinnen und Freunde des Kreises seiner Eltern, in dem sich auch Quentin bewegt. Dass Virginia Woolf seine Tante ist, nützt er aus, sie wird seine Lehrerin und erste Kritikerin.
Schauplatz ist Charleston, das Haus, das Quentins Mutter und ihr Lebensgefährte Duncan Grant schon durch die Innenausstattung zu einem Bekenntnis ihrer Auffassung von Kunst und Leben gemacht haben. Unbeschwertheit, Freizügigkeit, Vorurteilslosigkeit, Schönheit, das sind die Ideale, nach der die Welt gestaltet wird, in der Quentin aufwächst. Ganz so paradiesisch ist der Alltag dann aber doch nicht.
Die Suche nach der Geschichte
Über die Bloomsbury Group ist viel geschrieben worden, dem Ganzen etwas Neues abzugewinnen, dementsprechend schwer. Kromhout, der dem Zauber dieses Kreises deutlich erlegen ist, will die Gruppe einer jüngeren Leserinnenschaft zugänglich machen. Quentin ist fünfzehn, als seine Mutter mit Duncan Grant nach Charleston zieht. Bei Kromhout ist er Beobachter und Berichterstatter, eine Aufgabe, die er tatsächlich übernommen hatte. Quentin Bell war ein sorgfältiger Chronist, mit einem Auge für Details, wenn auch nicht immer für die dahinterliegenden Bedeutungen. So ist auch der Quentin des Buchs gestaltet. Was hinter seinen Beobachtungen liegt, darf immer wieder einmal die junge Leserin erschließen, nicht alles wird erklärt oder vorgegeben.
Die Betonung der Beziehung zwischen Quentin und seinem zwei Jahre älteren Bruder Julian wäre tatsächlich ein etwas anderer Aspekt im Altbekannten, trägt hier die Handlung aber nicht. Kromhout verliert sich bald in der Fülle der Fakten, Interpretationen, Annahmen, Legenden über die Gruppe. Eine Geschichte im klassischen Sinn darf man nicht erwarten. Einlassen muss man sich auf ein buntes Porträt beträchtlichen Ausmaßes, einschließlich einer kräftigen Dosis Schreibtipps und Hinweisen zu moralisch richtigem Verhalten. Beide sind unbestreitbar fortschrittlich, wie auch die Lebensformen, die vorgeführt werden. Hin und wieder allerdings genügen sie den Ansprüchen nicht ganz. Was vorgelegt wird, ist eine nicht ganz überzeugende Mischung aus Roman und fiktionalisiertem Sachbuch.
Distanziert
Die Schilderungen des Alltags in Charleston lesen sich wunderbar, Märchen, Abenteuer und heile Welt in einem. Der alte Garten, ein Baumhaus, Besucherinnen und Besucher voller Einfallsreichtum und Exzentrizitäten, die nicht nur Jugendliche faszinieren, Theaterspiel, Feste und eine beneidenswerte Selbstverständlichkeit, mit der alternative Lebensformen gelebt werden.
Die Probleme, die ein solches Leben verursachen, werden durchaus angesprochen. Misstrauen und Ausgrenzung durch Menschen außerhalb des Kreises, der Kampf um künstlerische Anerkennung, Eifersüchteleien wegen der häufigen Partnerwechsel, unglücklich Liebende im Kreis. Der Ernst bis hin zur Tragik solcher Konstellationen bleibt leider blass. Trauer weht zuweilen durch die Geschichte, etwa beim Tod Lytton Stracheys oder bei Virginia Woolfs unerfülltem Kinderwunsch, berührt beim Lesen aber kaum.
Kromhout weicht auch den damaligen politischen Entwicklungen nicht aus. Zwei Formen des Faschismus, in Italien und Deutschland werden – sacht – diskutiert, eine dritte, in Spanien, wird Quentins Bruder zum Verhängnis. Britische Innenpolitik und Stalinismus werden angerissen. Die Figuren des Buchs wirken jedoch grundsätzlich distanziert, die Leserin hat es schwer, sich emotional zu engagieren. Angesichts der reichhaltigen Präsentation von Einzelheiten zu so vielen und vielem, ist eine Identifikation kaum möglich. Die Lektüre erfordert viel Geduld.
Die Entscheidung des deutschen Verlags, das Ganze als Geschichte der Brüder Julian und Quentin zu präsentieren, wirkt überdies kontraproduktiv. Zum einen verliert Kromhout diesen Handlungsstrang zeitweise aus den Augen, Julian verschwindet aus Quentins Berichten. Zum anderen übergeht er, dass seine Hauptfiguren zum Zeitpunkt der entscheidenden Konflikte keine Jungen mehr sind, sondern junge Männer Ende zwanzig. Ihr Benehmen und ihr Ton aber sind durchgängig der von Teenagern. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum Künstlerisches, Moralisches sowie vor allem Politisches streckenweise sehr naiv klingt.
Betrachtet man die Vorbilder aus dem Leben, muss man sagen, dass ihnen das im Roman nicht eben zum Vorteil gereicht. Sie wirken unreifer, Julians Leistung z.B. als Lyriker geht unter, er ist allein der politische Idealist, sprich: Ahnungslose. Die Handlungsweise der Elterngeneration, etwa in Beziehungsfragen, bleibt Quentin letztlich verschlossen, als Teenager ebenso wie als Mann Ende zwanzig.
Trotzdem gibt es viel Positives. Die Übersetzung von Birgit Erdmann wirkt schwerelos und trägt zur Lebendigkeit in hohem Maß bei. Der Familienkonflikt zum Thema Eltern und Kinder gibt dem jungen Publikum, und nicht nur ihm, eine harte Nuss zu knacken. Geld, Moral, Familienrücksichten sind wesentliche Themen, für junge Menschen ganz besonders. Die Gruppe dieser Künstlerinnen und Künstler einmal aus vermeintlich kindlicher Perspektive darzustellen, ist originell und macht neugierig. Es ist ein Buch für Neugierige, für Entdeckerinnen auf dem Feld der Literatur und bildenden Kunst und deren Einfluss auf das Leben eines jeden Individuums. Hier öffnet sich eine Welt, Durchhaltevermögen gehört aber unbedingt ins Gepäck.
Titelangaben
Rindert Kromhout: Brüder für immer
(Soldaten huilen niet, 2010). Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
München: mixtvision Verlag 2016
300 Seiten, 14,90 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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