/

Niemand ist unschuldig

Roman | Don Winslow: Corruption

Der deutsche Titel von Don Winslows neuem Roman – Warum die anglisierte Schreibweise, wenn es sich bei ›Corruption‹ doch nicht um den Originaltitel handelt? – sagt es sofort: Es geht um Korruption. Und die hat in diesem in New York spielenden Polizeithriller das ganze System erfasst. Sodass in Winslows 500-Seiter keine einzige der vielen auftretenden Personen – vom Streifenpolizisten bis zum Bürgermeister des »Big Apple« – ohne Schuld ist. Und doch wirft einer den ersten Stein. Denn der nächste könnte ihn selbst zum Ziel haben. Von DIETMAR JACOBSEN

Denny Malone ist Detective Sergeant. In der Elitetruppe der Manhattan North Special Taskforce der New Yorker Polizei genießt er absolutes Ansehen. Wird mehr geachtet als die meisten seiner Vorgesetzten, die sich nur zu gern mit seinen Federn schmücken. Bis eine kleine Unachtsamkeit das FBI auf den Plan ruft. Und plötzlich steht Dennis Malone unter Beschuss, lässt sich »umdrehen«, bespitzelt seine eigenen Leute – immer in der Hoffnung, dass noch einmal gut gehen könnte, was so viele Jahre gut gegangen ist. Doch der Niedergang des korrupten Cops lässt sich nicht aufhalten.

Das System der Umschläge

Don Winslows neuer Thriller, der im Original ›The Force‹ heißt, beschreibt aus der Sicht seiner Hauptfigur und durchgängig in einem die erzählten Vorgänge ganz nah an den Leser heranrückenden Präsens verfasst, wie aus Idealismus Opportunismus, aus Moral Gier und aus Loyalität Verrat werden. Malone, einst angetreten, um das Recht in seiner Stadt New York zu schützen, sie zu einem sicheren Ort für jeden der hier Lebenden zu machen, ist nach 18 Jahren Polizeidienst zu einem Teil des korrupten Systems geworden, das bei Winslow niemanden ausschließt. Alle greifen sie zu, wenn die Umschläge mit den Schmiergeldern die Runde machen. Alle drücken sie die Augen zu und profitieren, bestechen und lassen sich bestechen, schaffen beiseite, was beiseitegeschafft werden kann, halten die Hand auf und schweigen, weil geschwiegen werden muss, soll das System weiter funktionieren.

Dass Malone und die drei ihm unterstellten Polizisten längst nicht mehr der Gerechtigkeit dienen, wollen sie sich selbst gegenüber freilich nicht eingestehen. Wo wäre denn die Stadt, wenn es sie nicht gäbe? Dass sie nicht nur dem Gesetz dienen, sondern es auch tagtäglich brechen, nehmen sie als ihr gutes Recht wahr. Schließlich müssen sie alle ihre Familien ernähren, für die Studiengebühren ihrer Kinder ansparen, ein Haus abbezahlen. Also was ist schon schlimm an der Tatsache, dass sie Verbrechern, die anderen schaden, ihrerseits Schaden zufügen? Bezahlt der Staat seine Polizisten mehr schlecht als recht, sorgen die halt dafür, dass nicht alles, was in den Asservatenkammern landen müsste, auch dort ankommt. Und ist es etwa nicht gerecht und lobenswert, wenn die Beute auch mit den Witwen jener geteilt wird, die ihr Leben im Polizeieinsatz opferten?

Die »Landschaftsgärtner« von North Manhattan

Mit »Landschaftsgärtnerei« vergleicht Bill Montague, den die Männer um Malone Big Monty nennen, einmal ihren Job: »Wir sind Landschaftsgärtner. Wir sorgen dafür, dass der Dschungel nicht wieder überhandnimmt.« Der Dschungel – das ist das New York vor Rudolph Giulianis Nulltoleranzstrategie, eine verbrechensgeplagte Großstadt mit 2000 Morden jährlich. Hat die Antiterrorstoßrichtung der Ordnungskräfte nach dem 11. September 2001 die Mafiageschäfte wieder aufleben lassen, soll das ganze doch bitte schön unter Kontrolle gehalten werden.

Und hier kommt die Manhattan North Special Taskforce ins Spiel – die »Besten der Besten«, wie sie sich selbst sehen. Winslow freilich sieht sie nach jahrelanger Faktensammelei als kleinen Teil eines von Korruption zusammengehaltenen Gesamtsystems. Wenn sich jeder nimmt, was ihm nicht zusteht, warum sollen ausgerechnet die, die für die Ordnung des Ganzen ihr Leben einsetzen, leer ausgehen?

Und so bleiben von 70 kg beschlagnahmten Heroins halt 20 bei Malones Truppe hängen und von vier Millionen Dollar Bargeld findet nur die Hälfte den gesetzlich vorgeschriebenen Weg. Es ist der Anfang vom Ende, denn bei dem Spiel, an dem korrupte Vorgesetzte, rivalisierende Drogengangs, Nachkommen der fünf legendären New Yorker Mafiafamilien, schlagzeilengeile Journalisten, karrieresüchtige Staatsanwälte, ambitionierte Politiker und das FBI mitmischen, kann nur der wirklich gewinnen, der ganz oben in der Nahrungskette seinen Platz hat.

Dass der sich und seine Macht überschätzende Denny Malone am Ende eben doch nicht zu diesen Schwergewichten zählt, muss er im Verlaufe eines schmerzhaften Prozesses begreifen, in dem er gezwungen wird, nicht nur sich selbst ans Messer zu liefern, sondern auch alles, was er besitzt, und alle, die er liebt.

Winslows verlorene Leichtigkeit

Don Winslow (Jahrgang 1953) hat schon mal leichter geschrieben. Als er 2008 vom Suhrkamp Verlag für das deutsche Publikum (wieder-) entdeckt wurde, war die Kritik begeistert. Kurze, knackige Kapitel schrieb der Mann, Sätze, die trafen, Bilder, die stimmten. Kurzum: Er räumte auf mit dem Klischee vom Krimi als Wühltischware und ästhetischer Tieffliegerei. Plötzlich taugte ein Thrillerautor als Aushängeschild für die »Suhrkamp-Kultur«.

Was den Mann dann so durcheinanderbrachte, dass er um die Jahre 2013/2014 herum nicht nur seinen deutschen Verlag, sondern auch seinen allseits bewunderten Stil wechselte, kann man nur vermuten. Jedenfalls geht auch Corruption die frühere Leichtigkeit ab. Und weil der neue Roman auch mehr auf Seelenqualen seiner Hauptfigur als auf harte Action setzt – sie fehlt nicht ganz, erscheint aber, verglichen mit Winslows letzten Büchern, deutlich reduziert –, macht er beim Lesen manchmal ziemliche Mühe. Eine ziemlich vernichtende Analyse der Verhältnisse in den USA nach der Jahrtausendwende liefert er dennoch ab.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Don Winslow: Corruption
Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte
München: Droemer 2017
541 Seiten. 22,99 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Dietmar Jacobsen über Don Winslow in TITEL kutlurmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Getrübte Wahrnehmung

Nächster Artikel

Immer Rummel um »La Lollo«

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Der aufrechte Gang begann im Allgäu

Roman | Volker Klüpfel/Michael Kobr: Affenhitze

Wer hat den Paläontologen Professor Brunner getötet? Vor dieser Frage stehen Interims-Polizeipräsident Adalbert Ignatius Kluftinger und sein Team in ihrem zwölften Fall. Der sie dorthin führt, wo wissenschaftlich Sensationelles stattgefunden hat, nämlich die Entdeckung des ältesten Menschenaffen der Welt. Bescheiden hat ihn der Professor nach sich selbst benannt: Udo. Und damit nicht nur Teile der Fachwelt gegen sich aufgebracht. Aber überrollt man den ungeliebten Kollegen deshalb gleich mit einem Bagger? Kluftinger ermittelt, wie man das von ihm inzwischen gewohnt ist, auch in Affenhitze etwas chaotisch, aber letzten Endes mit scharfem Blick für das Wesentliche. Und auch an Nebenkriegsschauplätzen verwüstet er wieder einige. Von DIETMAR JACOBSEN

Im Auftrag der »Abteilung«

Roman | Andreas Pflüger: Endgültig Andreas Pflüger kennt man vor allem als Drehbuchautor. Mehr als zwanzig ARD-Tatorten haben seine Ideen zur Bildschirmpräsenz verholfen. Auch Theaterstücke und Hörspiele stammen aus der Feder des 58-Jährigen. Romane freilich gibt es von ihm bisher nur zwei: Operation Rubikon von 2004 und nun, in diesem Jahr, Endgültig. Das soll sich freilich ändern. Denn die Geschichte um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron sei noch lange nicht zu Ende erzählt, bekundet ihr Erfinder im Nachwort zu seinem Roman. Von DIETMAR JACOBSEN

Eine schwarze Feder gibt’s aus London

Film | Im TV: TATORT – Großer schwarzer Vogel (RBB), 9. Februar Leicht ist es nicht, darüber nachzudenken, was ein so gewichtiger Titel bedeuten mag. Ein schwarzer Vogel kommt in diesem TATORT genaugenommen kaum vor. Gut, ein paar Mal fliegen Krähen über Land. Eine schwarze Feder taucht überraschend aus London auf. Sonst? Muss man halt drüber nachdenken. Von WOLF SENFF

Da hat man sich viel vorgenommen

Film | Im TV: ›TATORT‹ – Dicker als Wasser (WDR), 19. April Dieser Fall führt uns tief in die Vergangenheit, auch ein Krimi hat seine Stereotypien, seine Schablonen, die ihm Struktur verleihen, als da wären der Actionfilm, der Psycho-Krimi, das Whodunnit-Muster, die Erpressung, die Beziehungstat usw. usf., die Welt ist bunt. Dieser ›TATORT‹ rückt vor allem die Vergangenheit gerade. Von WOLF SENFF

Das Horn in der Brust

Krimi | Leonhard F. Seidl: Viecher Leonhard F. Seidl legt im neuesten Krimi so richtig los. Und auch sein Privatdetektiv Freddie Drechsler gerät in seinem zweiten Fall richtig in Fahrt. Im wahrsten Sinne des Wortes darf er mal richtig die Sau rauslassen, pardon, den Stier an den Hörnern packen. Viecher ist wie schon Genagelt (2014) wieder ein extrem mörderischer, zugleich bajuwarisch burlesker Text – eine Mischung aus gewohntem tiefschwarzen Politsumpf und tierischem Vergnügen. Von HUBERT HOLZMANN