Mit dem Text ›Muttersterben‹ gewann Michael Lentz 2001 den Ingeborg-Bachmann-Preis; jetzt ist sein Erzählband als Taschenbuch erschienen: ein großes formales Experiment, eine Prosa, in der die Grenzen der Sprache neu vermessen werden. Von PETER MOHR
Michael Lentz hat sein Studium mit einer opulenten Dissertation über die Lautpoesie nach 1945 abgeschlossen und nun den gefährlichen Spagat zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischer künstlerischer Umsetzung gewagt. Diese hoch artifizielle Form der literarischen Grenzerkundung erfordert vom Leser höchste Konzentration, denn der Autor bricht mit allen sprachlichen Konventionen. Orthografie und Grammatik werden beiseitegeschoben, die Phonetik bestimmt über weite Strecken den Duktus. Stakkato-ähnliche Sätze von großer Intensität hämmern sich ins Gedächtnis, gerade so, als hätte der ausgebildete Saxophonist Lentz auf einem Notenblatt mit Buchstaben jongliert.
Radikale Herangehensweise
Mit der gleichen Radikalität, die seine formalen Experimente kennzeichnet, geht Lentz auch an seinen Erzählstoff heran. Ungetarnt ist von einem jungen Schriftsteller die Rede, der den Tod seiner Mutter beklagt. Vier Jahre hat sich der schleichende Krebstod hingezogen (es war nur noch eine »zwanzigprozentige mutter«) und den Schriftsteller (Lentz) in eine existenzielle Krise gestürzt. Wie brav und konventionell lesen sich dagegen heute im Rückblick Peter Handkes Wunschloses Unglück und Ludwig Fels’ Der Himmel war eine große Gegenwart – literarische Werke mit einem ähnlichen Sujet.
Kann man Tod, Trauer und unendlichen Schmerz in Worte fassen? Muss man für diese höchst subjektiven Gefühlslagen nicht die Sprache individuell erweitern, ein persönliches, ein einzigartiges Medium finden? Um diese Kardinalthemen hat Michael Lentz seinen Prosaband Muttersterben arrangiert.
Der Tod ist allgegenwärtig, nicht nur der Tod der Mutter im speziellen, sondern auch als Ausdruck der Flugangst, in den täglichen Nachrichten über Morde und Kriege, beim Besuch von Montmartre und in zahlreichen literarischen Querverweisen (z. B. auf Celans Todesfuge).
Leidenschaftliches Plädoyer für Subjektivität
Zwischen den erzählerischen Polen Mutter, Kindheit und Tod erschließt sich auch noch eine großbürgerliche Nachkriegsbiografie, in deren Mittelpunkt die gestorbene Mutter als eine Art Schattenexistenz mit »gepanzerter selbstnichtwahrnehmung« auftaucht, als Anhängsel des Vaters, eines hohen Verwaltungsbeamten. »Zeitlebens war sie da. Das ist ein übermäßiges loch jetzt, wenn sie nicht mehr da ist. Das ist ein krater.«
Michael Lentz’ Prosaband kommt mit der Naturgewalt eines Vulkans daher. Diese geradezu eruptive Erzählweise scheint die einzig adäquate Variante, um Inhalt und Form, existenzieller Krise und sprachlichem Experiment ein Höchstmaß an Kongruenz zu verleihen.
›Muttersterben‹ liest sich auch als leidenschaftliches Plädoyer für die Subjektivität. Da die Psyche des Menschen nicht nach festgefügten Regeln reagiert und sich Gefühle nicht kategorisieren lassen, so Lentz’ latente Botschaft, kann deren aufrichtig authentische Beschreibung auch keinen äußeren (grammatischen) Normen folgen.
Ein literarisches Monstrum, ein hervorstechendes Buch, und ein Abenteuer für den Leser, dessen sprachliche Sensibilität auf den Prüfstand gestellt wird.
Titelangaben
Michael Lentz: Muttersterben
Frankfurt: Fischer Verlag 2002
186 Seiten, 8,90 Euro
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