TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Suizid
Farb hatte von Anfang an auf Selbstmord getippt, er war aufgeregt, als er jetzt die Kurzmeldung las, und sah seine Selbstmord-These bestätigt. Einige seiner Freunde, sagte Farb, hätten den Mann persönlich gekannt, der Mann habe keinen einzigen Tag im Ghetto verbracht. Er lachte. Viele Gäste würden, statt daß sie zum Salzmeer gingen, die Dachterrasse ihres Hotels aufsuchen, das seien verschiedene Welten, im Ghetto bekomme sie niemand zu Gesicht, sagte er, legte die Zeitung beiseite und setzte sich wieder.
Die Luft unmittelbar am Meer sei hochgradig mit Mineralien angereichert, jeder wisse das, und sich dort aufzuhalten werde dringend empfohlen, mahnte er, bei den Dänen im Caesar’s Palace werde deren Anwesenheit von ihrer Schwester überwacht. Zu jeder Dachterrasse aber führe ein Fahrstuhl, ein kurzer Weg, Errungenschaft der Technologie und die bequemere Lösung.
Der unkomplizierte Weg sei nicht in jedem Falle von Vorteil, warnte Schneider. Schneider? Er ist uns aus einer anderen Erzählung zugelaufen, am Salzmeer ist vieles denkbar, ich komme darauf zurück.
Auch im Moriah Gardens werde die Dachterrasse genutzt, ergänzte Rainer.
Farb lachte. Wer sich auf die Dachterrassen zurückziehe, möge sich wohl nicht unbekleidet in die Sonne legen. Der Mensch im Alltag sei spießig, das gelte sogar für das Ghetto am Salzmeer.
Unser Philosoph spricht, rief Vladimir ihm über drei Liegen hin zu und applaudierte, Vladimir werden wir kennenlernen, wenn er Petra besucht.
Wären nicht wegen des Feuers zwei Etagen evakuiert worden, sagte Farb, hätte niemand von dem Todesfall berichtet. Alles sei zwischen zwei und drei Uhr nachts geschehen, er wohne im Moriah Gardens, das Moriah Plaza liege einen Kilometer südlich, nicht weit vom Nirwana. Finde sich einer zurecht mit diesen Namen, schimpfte er, sie würden alle paar Jahre wechseln.
Freunde aus dem Moriah Plaza hätten ihm von den Aufregungen berichtet. Die Hotels verstünden heutzutage perfekt, derartige Dinge geheimzuhalten, sie würden alles vertuschen, was ihren Ruf schädigen könnte, so abhängig seien sie von den Veranstaltern. Verstehe das, wer will, sagte er.
War Farb schon nicht mehr nüchtern? Sobald er sich einen ernsthaften Anschein gab, mißtraute Schneider ihm doppelt, die Realität am Salzmeer war doppelbödig.
Betrachte man es genau, begann Farb von neuem und setzte sich in seiner Liege auf, fülle das Salzmeer einen tiefen Riß im Planeten, und ein Ort wie dieser, fügte er hinzu, sei von alters her prädestiniert für Kerker und Gefängnisse, wer werde da eine Träne über einen Suizid vergießen.
Farbs Haut war nahezu ausgeheilt, wer genau hinsah, erkannte zurückgebliebene dunkle Pigmentbildungen an den Gliedmaßen und am Rumpf. Es wäre wichtig für Farb, auch seine letzten Tage intensiv zu nutzen. Die erste Regel hier lautete, dies nur am Rande, daß man keinen Tag verlorengeben durfte, nicht einen.
Ob sie darüber nachgedacht hätten, weshalb dieses Ghetto bis vor kurzem von einer orangeroten Sichtschutzplane umgeben gewesen sei. Weshalb orangerot, frage er sich, sagte Farb, ausgerechnet orangerot, und antwortete, Orangerot sei eine Warnfarbe der Overalls von Straßenarbeitern und Müllmännern, Signalrot, kurz: die verfügbaren Indizien wiesen auf Ausgrenzung hin, auf Marginalisierung, auf Apartheid, allerorten herrsche Apartheid in diesem Staat. Rainer und Schneider sollten sich einen Eindruck verschaffen, wie die Araber behandelt würden. Das öffne die Augen.
Unser Philosoph spricht, wiederholte Vladimir und applaudierte.
Für Unterkunft und Verpflegung sei lückenlos gesorgt: eine List. Daß sich zahlreiches Personal kümmere und das vertraute Konsumangebot im kleinen und im großen Zentrum – Augenwischerei, damit die Gäste sich geborgen fühlen. Die neuesten Hotels böten Wellness-Ausstattung an, und im Hyatt Regency, hieß es, werde ein Casino eingerichtet. Alle erdenklichen Wünsche schienen befriedigt.
Sichtbar die Holzstege instandsetzen, insgeheim jedoch nach Guanzhong marschieren!, so nenne er das. Hinter den reibungslosen Abläufen verberge sich Leere, sagte er, kaltes Blut und Leere: Haß. Alles deute auf einen Krieg. Und überhaupt, ergänzte er verächtlich, gebe es niemanden, der an diesem Ort wohne, und fragte, ob das niemandem aufgefallen sei.
Farb steuerte auf eine Krise zu, das war keineswegs ungewöhnlich, ich erwähnte es, drei oder vier Wochen im Lager lassen niemanden unbeschadet zurück. Er redet ohne Unterlaß, nicht? Er schien von seinen ausgefallenen Ideen überzeugt zu sein.
Er kam mit Todesverachtung daher und war von den Lockungen des Konsums nicht zu ködern, das wiederum machte ihn sympathisch. Seine Zeitungen lenkten ihn von der mörderischen Stille dieser Senke ab. Nicht jeder hielt es aus wie er, obgleich auch bei Farb unübersehbar wurde, daß sich nackte Verzweiflung Bahn brach.
Wer weiß schon, was in einem Menschen vorgeht. Einige Tage lang zeigte er sich noch im Lager, ich komme darauf zurück, danach sah Schneider ihn nur selten, und mit der Abreise brach jeder die Brücken hinter sich ab.
Einer wie Farb torpediert jede Ordnung.