Um den verbreiteten wie komplexen Problemen Schulangst, Schulphobie und Schulschwänzen beizukommen, bedarf es eines sehr differenzierten und distanzierten Blicks der Betroffenen und Angehörigen auf die eigene Situation. Von ANDREA WANNER
Jeder kennt das flaue Gefühl in der Magengrube, wenn in der Schule eine Klassenarbeit wartete, auf die man mehr oder weniger schlecht vorbereitet ist. Jeder kennt die aufsteigende Übelkeit, wenn Vokabeln geprüft werden, von denen man keine Ahnung hat. Und jedem fallen sicher auch sonst genügend Situationen ein, in denen Schule zum Alptraum wurde. Aber was passiert, wenn Schule zum täglichen Horror wird, dem sich Schüler nicht mehr stellen können?
Wolfgang Oelsner, als Lehrer und Kindertherapeut Leiter der Klinikschule in Köln, und Gerd Lehmkuhl, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Köln, haben einen Ratgeber für Eltern und Lehrer geschrieben, der Schulangst zum Thema hat.
Was für Gründe gibt es dafür, dass Kinder die Schule verweigern? Grundsätzlich unterscheiden Oelsner und Lehmkuhl drei verschiedene Formen von Schulverweigerung, die jeweils einen ganz anderen Lösungsansatz verlangen. Schulangst, die Angst vor der Schule, ist nur eine der drei Ausprägungen. Angst vor Überforderung, Angst vor den Lehrern oder vor den Mitschülern, Mobbingerfahrungen führen hier zu Panikattacken, zu Kopf- oder Bauchschmerzen oder Übelkeit bis zum Erbrechen, für die es keine körperlichen Ursachen gibt.
Genau die gleichen Symptome plagen die Kinder, die unter einer Schulphobie leiden. Hier ist die Schule aber nur der Schauplatz, nicht die Ursache der Ängste, die einer ganz anderen Quelle entspringen: Trennungsängste, oft genug von den Eltern auf die Kinder projiziert. Das Kind will das Bezugssystem Familie, in dem es sich geborgen fühlt und König sein darf, nicht gegen das System Schule tauschen, in dem es als Gleicher unter Gleichen um seinen Platz kämpfen muss. Und als dritte Verweigerungsform, die nicht Ängste, sondern eine starke Unlust als Auslöser hat, wird am Rande noch das Schulschwänzen gestreift.
Drei Ursachen, ein Ergebnis: Das Kind geht nicht zur Schule, im Falle von Schulangst und Schulphobie mit Wissen der Eltern, die meist ratlos nach dem Grund suchen, im Falle des Schwänzens meist ohne elterliche Kenntnis.
Zahlreiche Einzelfälle zeigen exemplarisch die Entwicklung der Störungen, spüren den Ursachen nach und weisen die Lösungs- und Therapiemöglichkeiten auf. Die Geschichte von Sven, der sich bienenfleißig ins Gymnasium gearbeitet hat, dort aber aufgrund seiner Leistungsschwächen ohne Erfolg bleibt und schließlich aufgibt, ist ebenso typisch für das Phänomen Schulangst wie der Werdegang von Johannes, der mit 16 Jahren mit der schulphobischen Symptomatik in der Psychiatrie landet. Ein Sunnyboy mit schulischem Erfolg, der das vertraute Nest nicht ohne Angst verlassen kann.
So interessant sich die Fälle von Sascia, Thomas und Anna lesen, sie machen gleichzeitig auch deutlich, dass es sich um ein komplexes Problem handelt, dem schwer beizukommen ist. Es setzt für betroffene Familien – und man muss laut Oelsner und Lehmkuhl von insgesamt etwa 5% aller Schüler ausgehen, die über Schulangst klagen – einen sehr differenzierten und distanzierten Blick auf die eigene Situation voraus. Eine Fähigkeit, die man manchen Eltern angesichts von Einschulungsglückwünschen in der Zeitung wie »Hallo, Dr. (in spe) Ronja Christiane ›Räubertochter‹ Müller! Mehr als bis 3 zählen kannst du schon lange, den Rest schaffst du auch noch.« (weitere Beispiele finden sich im Buch) vielleicht nicht unbedingt zutraut.
Die zwei kompetenten Fachleute, die um die Fallstricke von Selbstdiagnosen wissen, weisen dann auch im zweiten Teil vorsichtig auf Wege aus dem Konflikt hin. Häufigster Ratschlag ist der, fachkundige Hilfe zu suchen.
Um in unserer Leistungsgesellschaft, die ab dem Eintritt in die Schule auch Kinder nicht ungeschont lässt, bestehen zu können, braucht man eine starke, stabile Persönlichkeit. Um diese entwickeln zu können brauchen Kinder laut Oelsner und Lehmkuhl keine angstfreien, aber einen geschützten Raum, in dem sie experimentieren können, Fehler und Irrtümer begehen dürfen, um ihre Anlagen zu entfalten. Der Ratgeber kann für Eltern und Lehrer eine Hilfestellung sein, Probleme, die dem im Weg stehen, zu erkennen und die richtigen Schritte einzuleiten, um sie zu beseitigen.
Titelangaben
Wolfgang Oelsner / Gerd Lehmkuhl: Schulangst erfolgreich begegnen
Ein Ratgeber für Eltern und Lehrer
München: dtv 2004
159 Seiten, 8,50 Euro
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