Ängste sind unteilbar

Prosa | Markus Bundi: Ausgezogen

Markus Bundis brillante Erzählung ›Ausgezogen‹ schickt uns auf einen verstörenden Gang durch den Dschungel menschlicher Abgründe, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Von PETER MOHR

Ausgezogen»Nichts ist dir geblieben, kein Funke, kein Gefühl – du hast dir alles einreden lassen«, heißt es über die Hauptfigur Peter, einen Mann mittleren Alters, dessen Erinnerungen verschwommen und dem, damit einhergehend, sämtliche Lebenszusammenhänge abhandengekommen sind. Ist er – im Sinne des Titels – von irgendwo fortgegangen oder bewegt er sich »entblößt« durch den Alltag?

Der 37-jährige Markus Bundi, der acht Jahre als Literaturredakteur der »Aargauer Zeitung« tätig war und in den letzten Jahren schmale Bände mit Gedichten und Kurzprosa sowie einen Essay über Klaus Merz veröffentlichte, hat seinem ersten längeren Erzähltext ein Lichtenberg-Zitat vorangestellt: »Auf der Grenze liegen immer die seltsamsten Geschöpfe.« Die Prosa von Bundi betreibt nicht nur Grenzerkundungen, sondern sie erinnert in ihrer sprachlichen Zuspitzung und radikalen Verknappung auch etwas an den Göttinger Meister des Aphorismus.

Heilloses Durcheinander des Gehirns

Der Protagonist Peter bewegt sich zunächst in einem schlafwandlerischen Zustand durch ihm vertraute Räume. Erinnerungen an das kindliche Fußballspiel zwischen zwei Teppichstangen werden von einem Piepsen in seinem Ohr überlagert – wie durch einen inneren Alarmmelder sendet der Körper Störsignale in den Kopf. Irgendetwas hat in seinem Inneren ausgesetzt, seine Funktionen eingestellt. Ist es Autismus oder Tinnitus? Jedenfalls gerät Peter in einen Zustand extremer innerer Erregung und Verzweiflung, er steckt sich die Finger in die Ohren, um das heillose Durcheinander in seinem Gehirn zu stoppen: »Er war zu langsam für diese Welt«, lautet das Resümee.

In verschiedenen gesellschaftlichen Rollen startet er den Versuch, zu sich selbst zu finden, sich einzuordnen in irgendwelche sozialen Zusammenhänge. Als Kurator, Künstler, Kommissar und sitzen gelassener Ehemann fantasiert er sich ein soziales Geflecht zusammen, doch die Mosaiksteine ergeben kein harmonisches Ganzes. En passant erweist sich Bundi in diesen Passagen auch noch als feinsinniger Kritiker des abgehobenen »Kunstzirkus«.

Aus einer großen Pappschachtel taucht im Museum seine Frau auf, deren Verschwinden Peters Gedanken permanent beschäftigen. Oder ist er selbst verschwunden – von irgendwo? Es wächst ein schmerzender Harndrang, den er nicht mehr kontrollieren kann und Stimmen vermischen sich zu einem nicht zu definierenden Gemenge, das Piepen in den Ohren wird unerträglich »Gleich würde sein Kopf explodieren.«

Diese bemitleidenswerte, völlig entwurzelte Kreatur schleicht orientierungslos durch den Alltag, der sich vor ihm wie eine bedrohliche Nebelwand auftürmt. Psychische und physische Schmerzen begleiten ihn wie ein Schatten: »Sein Körper lag wie zähflüssiger Matsch auf der Matratze. Dateien werden lautlos gelöscht – oder löschen sich von selbst.«

Hochbegabter Existenzforscher

Markus Bundis erste längere Erzählung schickt uns auf einen verstörenden Gang durch den Dschungel menschlicher Abgründe, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Die klare, auf jeglichen verbalen Zierrat verzichtende Sprache gefällt ebenso, wie die philosophische Brillanz einzelner Sentenzen: »Das Nachdenken kommt, wie das Wort schon sagt, immer zu spät.«

Die seelischen Befindlichkeiten seines Protagonisten hat der in Baden lebende Autor prägnant in dem Satz »Ängste sind unteilbar« auf den Punkt gebracht. Das Ende des Textes hält Bundi in der Schwebe. Hauptfigur Peter summt eine Mischung aus Mozart und Hendrix: »Er war angekommen.« Doch wo? Vielleicht in der Vergangenheit? Und ließe sich vielleicht von dort aus sein Leben rekonstruieren?

»Der Romancier ist weder Historiker noch Prophet, sondern Erforscher der Existenz«, hat Milan Kundera in seinem Essay ›Die Kunst des Romans‹ sein dichterisches Credo zutreffend beschrieben. Als hochbegabter Existenzforscher hat sich auch Markus Bundi entpuppt. Hoffentlich lässt er uns nicht allzu lange auf seinen ersten Roman warten, denn mit dieser Erzählung hat er den Appetit seiner Leser angeregt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Markus Bundi: Ausgezogen
Zürich: Edition Epoca 2006
111 Seiten, 16,90 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vom Verschwinden des Menschen im Mineral

Nächster Artikel

Zigeuner, Minengesänge und Drogentod

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Hui-neng

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hui-neng

Diese Dinge liegen uns fern, sagte Termoth, das Reden vom Sechsten Patriarchen klinge wie eine Erzählung aus einer stillstehenden Zeit, habe nicht Gramner ihn kürzlich erwähnt.

Als ob es das gäbe, sagte Harmat, eine stillstehende Zeit.

Kaum zu glauben, sagte Thimbleman.

Auch hier in der Ojo de Liebre, versicherte dagegen Bildoon, stehe die Zeit still

Spielregeln

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Spielregeln

Was denn nun, fragte Wette.

Er wisse von nichts, sagte Farb.

Ob er austeilen solle, fragte Tilman.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne und nahm sich einen Marmorkeks; seitdem die Preise für Vanille in unerschwingliche Höhen gestiegen waren, waren die Vanillekipferl, die er früher so gern gegessen hatte, nicht länger im Handel erhältlich.

Vorbei

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Vorbei

Dauernd höre man jetzt von einem ›Kipppunkt‹ reden.

›Kipppunkt‹ werde mit drei ›P‹ geschrieben, das gehe auf eine Rechtschreibreform zurück.

Der Mensch sei eifrig bemüht, die Sprache zu verbessern.

Mit dreimal ›P‹, spottete Farb.

Einatmer

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Einatmer

Sinnlos, sagte Sut, ganz und gar sinnlos, und setzte sich in Widerspruch zu Termoth. Der war überrascht und schwieg.

Nichts werden wir ändern, ergänzte Sut Welcome to hell, sagte er: Der Geist des Todes werde den Menschen heimsuchen..

Wer zuhörte, erschrak.

Termoth nickte und lächelte. Auf keinen Fall würde er sich dazu äußern. Es gab unumstößliche Gewohnheiten, es gab Regeln, an die er sich hielt. Auf der ›Boston‹ das Wort zu ergreifen, das kam für ihn nicht in Frage, die ›Boston‹ war das Territorium von Sut.

Ausweglos

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausweglos

Walfang ist unsere tägliche Routine.

Wie meinst du das, Thimbleman?

Wir sind Teil einer Produktionskette, verstehst du, Ausguck, wir liefern die Energie, die erforderlich ist, um die Abläufe in der Stadt zu sichern – Licht in den Straßen, Schmierfett für Achsen, etc. Ohne uns sähe es schlecht aus.

So reden sie alle.

Du nicht?