/

Die Lust des Lesens

Kulturbuch | Hermann Korte: »Meine Leserei war maßlos«

Weniger die Schule als die Familie, vor allem der Vater bestimmte im 19. Jahrhundert den Lesekanon. Dabei spielten Verbote ebenso eine Rolle wie Empfehlungen oder das bloße Vorhandensein bestimmter Bücher im Elternhaus. Von THOMAS ROTHSCHILD

Korte LesereiDie öffentliche Kanondiskussion ist fast immer normativ. Nicht was tatsächlich gelesen wird, interessiert, sondern was nach Ansicht der jeweiligen Kanonverschreiber gelesen werden sollte. Die vorliegende Studie geht demgegenüber deskriptiv vor. Sie untersucht die Autobiographien von 51 Menschen, die zwischen 1800 und 1900 geboren wurden und ihre Lektüre thematisiert haben.

Dabei beschränkt sich Korte nicht auf eine Bestandsaufnahme, auf einen Titelkatalog, er beschreibt vielmehr, in welchem Lebenszusammenhang die Literatur von jenen, die ihre Lektüre benannt haben, aufgenommen wurde. So berührt das Buch zugleich das Gebiet der Kanonforschung wie das der Rezeptionssoziologie.

Unter den Stichworten »Initiation und Erweckung« belegt Korte an zahlreichen Beispielen, wie bedeutsam das Lesen für jene war, die später darüber schrieben (was natürlich bedeutet, dass man daraus nicht unbedingt Schlüsse über die Gesamtbevölkerung ziehen kann), und welchen Einfluss es auf deren weitere Entwicklung hatte. Der an Realien orientierte historisch-empirische Ansatz verbietet es dem Autor der Studie, fiktionale Texte auszuwerten, die aber wahrscheinlich kein wesentlich anderes Bild ergeben hätten, zumal ja auch Autobiographien die Wirklichkeit stilisieren.

Weniger die Schule als die Familie, vor allem der Vater bestimmte im 19. Jahrhundert den Lesekanon. Dabei spielten Verbote ebenso eine Rolle wie Empfehlungen oder das bloße Vorhandensein bestimmter Bücher im Elternhaus. Die Klage über den schulischen Deutschunterricht, die in unserer Zeit jedem vertraut ist, hebt bereits im 19. Jahrhundert an.

Bemerkenswert erscheint, dass für die literarische Sozialisation neben dem Buch immer wieder das Theater als wichtig erkannt wird. Heute wäre es wohl das Fernsehen, das diese Rolle eingenommen hat. Selbst Studenten der Literaturwissenschaft kennen viele kanonisierte Werke aus einer Fernsehbearbeitung, ehe sie sie lesen.

Vollends historisch scheint dem heutigen Literaturrezipienten die im 19. Jahrhundert verbreitete Übung des lauten Lesens. Und wer lernt heute noch, wie die Nachkriegsgeneration vor 50 Jahren, ganze Gedichte auswendig? Wer macht sich noch ein Vergnügen daraus, aus Werken der Vergangenheit zu zitieren oder Zitate als solche überhaupt zu erkennen?

Ein Register der genannten Werke wäre nützlich. Und der Rezensent vermisst im Zusammenhang des Themas eins seiner Lieblingsbücher: Aus meinem Leben von Franz Michael Felder.

| THOMAS ROTHSCHILD

Titelangaben
Hermann Korte: »Meine Leserei war maßlos«
Literaturkanon und Lebenswelt in Autobiographien seit 1800
Göttingen: Wallstein 2007
164 Seiten, 17 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Schattenwirtschaft eines Privatiers

Nächster Artikel

Das Evangelium nach José Saramago

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Elfen und Vulkane

Kulturbuch | Sarah Moss: Sommerhelle Nächte. Unser Jahr in Island Ausgerechnet in dem Jahr, als Islands Wirtschaft und der europäische Bankensektor zusammen- und der Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen ausbrechen, zieht es Sarah Moss mitsamt Ehemann und zwei kleinen Jungs in das Land, dessen Mentalität zu ihrer eigenen nicht kontrastreicher sein könnte. In  Sommerhelle Nächte. Unser Jahr in Island darf man sich vorsichtig auf die Spurensuche nach vergangenen Welten, Wikingerseelen und nordischer Kreativität machen. VIOLA STOCKER reiste mit leichtem Gepäck.

Die Macht der Worte

Kulturbuch | Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann Über die Renaissance ist viel geschrieben worden, aber dieses ist ein Buch, in dem ein Autor einem anderen nachspürt und diesem dann eine sagenhafte Verantwortung in die Schuhe schiebt. Ein Werk soll Ursprung eines neuen Zeitalters sein, wegbereitend für Generationen, bedeutungsschwangere Prophezeiung der intellektuellen Elite. Stephen Greenblatt forschte in Die Wende. Wie die Renaissance begann über eine fast vergessene philosophische Strömung. VIOLA STOCKER ließ sich auf eine sagenhafte Reise ins Herz einer bibliophilen Gesellschaft ein, der es gelang, Worte vor dem Vergessen zu bewahren, die Jahrzehnte später Europas ethisches Grundkonstrukt

Don´t worry, be happy!

Kulturbuch | Maike van den Boom: Wo geht´s denn hier zum Glück? Die Deutschen mögen wohl Weltmeister in Fleiß, Effizienz und Genauigkeit sein, nur an manch anderen Talenten scheint es ihnen zu mangeln. ›Wo geht´s denn hier zum Glück‹ fragt sich Maike van den Boom auf ihrer neunmonatigen Forschungsreise durch die 13 glücklichsten Länder der Welt. In ihrem Reisegepäck bringt sie jede Menge Antworten mit – und die meisten sind sehr einfach! Von INGEBORG JAISER

Schluss mit den Vorurteilen

Kulturbuch | Petra Stuiber: Kopftuchfrauen Nur ein Stück Stoff auf dem weiblichen Kopf, das war es einmal. Seit über zehn Jahren wird eine zuweilen unangenehm vehemente öffentliche Debatte über das Kopftuch geführt. Die österreichische Journalistin Petra Stuiber zeigt in ihrem Buch, dass es bei der Kopftuchfrage vor allem um Vorurteile geht, die nicht nur muslimische Frauen treffen. »Schluss damit!«, fordert sie. Und belegt dieses überzeugend. Von MAGALI HEISSLER

Paläste für Arbeiter, sozialistische Musterstädte

Kulturbuch | Tilo Köhler: »Seht wie wir gewachsen sind« Nach Josef Stalin wurden in den Jahren nach 1945 im sowjetischen Einflussbereich zahlreiche Objekte benannt, Straßen und Plätze, Fabriken und ganze Städte – nur die Umbenennung von Bergen blieb der UdSSR selbst vorbehalten (und Kanada). Der Name Stalins kann also durchaus für die ersten Jahre des sozialistischen Aufbaus in Ost-Europa stehen, bevor nach 1956 »der weise Führer des Weltproletariats« langsam aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt wurde. So kurios man das heute finden mag, Tilo Köhler hat seine Kulturgeschichte der frühen DDR ›Seht wie wir gewachsen sind‹ nicht ohne Grund an solchen