Matthias Gnehm aus Zürich treibt das Pathos der Aufklärung, die Identifikation des Mörders in den hellen Wahnsinn. ›Das Selbstexperiment‹ ist ein Irrgarten mit komischem Ausgang und dabei die reine Freude. THOMAS WÖRTCHE hat sich das Bild/Text-Labyrinth angeschaut.
Kommissar Drechsler ist ein nervliches Wrack. Dass er sein karges Zuhause mit einem alienartigen Vieh teilt und mit Filmplakaten aus dem Grenzbereich von Science Fiction und Big-Brother-Paranoia ausstaffiert hat (Fassbinders ›Welt am Draht‹ und ›Total Recall‹, ein Film, der auf einem Text des paranoidesten aller Großparanoiden fußt, auf Philip K. Dick), ist eher kontraproduktiv für seinen aktuellen Fall und seinen geistigen Zustand.
Denn der notorisch unrasierte Drechsel soll herausfinden, wer wen vor (oder mit?) einer verheerenden Explosion im Landhäuschen des internationalen Star-Comicautors Peter Röller umgebracht hat. Hat Röller seinen besten Freund gekillt, den seltsamen Wissenschaftler Frank Karrer, oder seine Szenaristin Claudia Fischer oder Karrers Ehefrau Diana? Oder ist Karrer der Täter? Oder – und jetzt wird’s sehr, sehr kompliziert: Stecken in verschiedenen Körpern verschiedene Bewusstseine und wenn ja, welches wo? Gibt es die Szenaristin Fischer oder ist sie nur eine Persona von Karrer? Ist Röller Karrer und oder steckt Fischer in Röller und der gleich mit in Karrer, und weiß Diana, wer gerade wer und wo ist? Und das sind nur die schlichtesten Möglichkeiten.
Denn der Superwissenschaftler (oder Phantast?) Karrer, der am durchaus realen Zürcher Collegium Helveticum forscht und Neurophysiologie mit biologischem Einschlag cum Chemie nebst IT (oder so) beherrscht, hat eine Substanz erfunden, die Emotionen – in diesem Fall Eifersucht der amourösen, erotischen und sozialen Variante – außer Kraft setzen kann. Mittels Gehirn-Scans, die Persönlichkeit und Identität, Perzeption und Körperlichkeit zu variablen Größen machen. Man kann sie hin und her tauschen. Virtuell und/oder eben nicht.
Herumloopende Identitätsspielerei
Das macht nicht nur Kommissar Drechsler große Probleme, sondern wirft das geneigte Publikum ob der Rasanz des Wahnsinns hin und wieder aus der Kurve. Aber keine Angst: Matthias Gnehm, der comicentwickelnde Architekt oder der Architekt, der grandiose Autoren-Comics erfindet (zuletzt den zweibändigen Wirtschaftsthriller Tod eines Bankiers) spielt sehr, sehr leichthändig mit dieser verwirrenden, irgendwo zwischen Crick und Lacan herumloopenden Identitätsspielerei. Er schichtet die diversen virtuellen und logischen, meta- und pataphysischen Konstellationen von Sein und Bewusstsein zu solch irren Höhen, dass sie mit stiller Komik wieder zusammenfallen müssen.
Seine Bilder sind von ausgefuchster Einfachheit. Manchmal Piktogramme, Icons, bloß storyboardhaft anmutende Skizzen, ganz genaue und sehr liebevolle Miniaturen von Zürich, schwarz/weiß-expressive Eruptionen und krickeliger Kinderzeichenstil gleichzeitig. Die gewollte Schlichtheit erdet die komplexe Handlung und die komplexe Handlung wird von vielen seine Figuren mit Buster-Keaton-hafter Stoik betrachtet. Nur der amtliche Aufklärer, Kommissar Drechsler, muss sich aufregen, rennen und toben und schreien.
Denn mit der Aufklärung ist es gerade dort, wo avancierteste wissenschaftliche Rationalität zu herrschen scheint, manchmal am Allerdustersten. Aber auch über diesen rationalitätskritischen Topos kann man letztlich wieder lachen – vor allem, wenn auf den letzten Bildern die Liebe ins Spiel kommt. Was aber auch nur eine scheinidyllische Lösung ist. Denn das letzte Bild ist total schwarz.
Geniales Teil.
| THOMAS WÖRTCHE
Titelangaben
Matthias Gnehm: Das Selbstexperiment
Zürich: Edition Moderne 2008
331 Seiten, 25 Euro
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