Ganzer Einsatz

Roman | Donna Leon: Verschwiegene Kanäle

Der 12. Brunetti Fall ist es nun schon, aber von literarischer Ermüdung in Sachen kniffliger venezianischer Polizeiarbeit kann bei Donna Leon nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil, der neue Fall, der in die »militärische Eliteschmiede« der Stadt führt, fordert den ganzen Einsatz des Commissarios. Von BARBARA WEGMANN

Verschwiegene Kanaele»Ich habe ein ungutes Gefühl bei dem Fall … Keiner hat mir die Wahrheit gesagt, ohne dass ich herausgekriegt hätte, warum die Leute lügen.« Leicht hat es Commissario Brunetti wahrlich nicht. Aber: kein Mitleid mit einem schon liebgewonnenen Ermittler, denn je schwerer er es hat, desto lebendiger die Unterhaltung und fesselnder die Spannung. Jede Fernsehzeitschrift ist vergessen, bis 320 Seiten dem Fall leider sein endgültiges Ende setzen.

Ermittlungen mit Bauchgefühl

Irgendwann im November, als schon ein »scharfer Hauch von Spätherbst« in der Luft liegt, wird der sechzehnjährige Ernesto Moro erhängt in einem Waschraum der Kadettenschule von San Martino gefunden. Keiner kann sich den angeblichen Suizid erklären, keine besonderen Vorkommnisse. »Keinem ist irgendetwas aufgefallen und alle beteuern, dass er ein prächtiger, ein ganz prächtiger Junge gewesen sei.«

Ein Fall, der Brunettis siebten Sinn, sein Bauchgefühl und seine Intuition wachruft. Obgleich viele froh wären, wenn der Fall möglichst rasch als Selbstmord zwischen geschlossenen Aktendeckeln archiviert würde, will er erst mit den Ermittlungen aufhören, »wenn die Zeichen verschwinden«. Recht hat er, denn der Sumpf, auf den er trifft, sucht seinesgleichen: eine elitäre Schule, elitäre junge Männer, die aus einem elitären Elternhaus kommen. »Gräßliche Snobs«, die »ihre Arroganz an die Söhne« weitergeben.
»Machterhalt und Machterweiterung« statt heiler Familienidylle und sauberer Politik. Es gibt Ausnahmen: der Vater des Toten, pensionierter Politiker hat den offenbar unpassenden Ruf, geradlinig und »viel zu anständig« zu sein. Er wird zur Schlüsselfigur, die Recherchen um Vater und Sohn führen zu korrupten und von Macht- und Geldgier durchflossenen Kanälen zwischen Parlament und Militär.

Vertuschte Skandale

Keine Sekunde lässt Commissario Brunetti weder seinen Fall noch den Leser los und allein. Kein Perspektivwechsel, keine Chance, dem Gedankengang des sympathischen Polizisten zu entrinnen, jede Nuance seiner Ermittlungen liegt offen und bereit, sich in ein Mosaik zu fügen.

Donna Leon hat die Geschichte fest am Zügel. Natürlich hat auch Brunetti vieles von dem anderer erfolgreicher Kommissare: er isst gerne und gut, er trinkt gerne eine Flasche Wein und er spricht mit seiner Frau über den Fall. Und für die ist das Wort Militär ein Reizwort. »Eine Privatakademie, die noch nicht einmal dem Militär unterstellt ist, kultiviert kriegerisches Sendungsbewußtsein und Gewaltverherrlichung. Eine Schweinerei so etwas!« Brunetti sieht die Kriminalität im Land, er hat Zukunftsängste und mit Kritik am italienischen Regime wird nicht gespart: »… und wenn es darum geht, einen der Ihren zu decken, dann schrecken sie vor nichts zurück, sei es Lüge, Betrug oder Meineid.«

Da ist der Kampf mit Vorgesetzten, da sind viele »hirnlose Bürokraten«, die die Ermittlungen erschweren, da ist die schöne Stadt Venedig, die man viel zu selten fasziniert durch die Brille eines Touristen sieht.

Das Bild des Commissarios, seiner Arbeit und des Falles, es ist rund, die Geschichte fließt angenehm und atmosphärisch, stetig und konsequent ihrem unausweichlichen Ziel zu und hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack: Wenn auch fiktiv zugespitzt, unrealistisch ist der zwölfte Fall des Commissarios über weite Strecken nicht. »In Italien hatten Skandale die gleiche Haltbarkeit wie frischer Fisch: am dritten Tag waren beide wertlos … und ehe man sich’s versieht, ist der Fall aus den Medien verschwunden.« Das kommt einem ungemein bekannt vor.

| BARBARA WEGMANN

Titelangaben
Donna Leon: Verschwiegene Kanäle
Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke
Zürich: Diogenes Verlag 2004
332 Seiten, 9,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Im europäischen Herz der Finsternis

Nächster Artikel

Betäubung und Rausch

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Der etwas andere Schnüffler

Comic | Andreas: Privatdetektiv Raffington Event Andreas‘ ›Privatdetektiv Raffington Event‹ ist nicht unbedingt der Mann fürs Grobe. Sein Spezialgebiet ist das Obskure: Fälle, bei denen man kaum einen Täter mit Namen nennen kann, falls es überhaupt einen geben sollte. Insofern ist er ein typischer Vertreter aus dem merkwürdigen Comic-Kosmos seines deutschen Urhebers, der zumindest in seiner französischen Wahlheimat schon lange zu den Großen gehört. Von CHRISTIAN NEUBERT

Dresden nach dem großen Krieg

Krimi | Frank Goldammer: Roter Rabe In den letzten Kriegsmonaten setzt die Reihe historischer Kriminalromane ein, mit denen sich der Dresdener Autor Frank Goldammer (Jahrgang 1975) seit ein paar Jahren eine große Lesergemeinde geschaffen hat. Max Heller heißt sein Protagonist und die einzelnen Romane verbinden geschickt spannende Kriminalfälle mit deutsch-deutscher Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Von DIETMAR JACOBSEN

Demokratie im Härtetest

Roman | Horst Eckert: Die Macht der Wölfe

Zum vierten Mal arbeitet Melia Adan, deren Chancen, Düsseldorfs nächste Kripochefin zu werden, gerade nicht schlecht stehen, mit Hauptkommissar Vincent Veih zusammen. Und erneut geht es um sehr viel. Während Vincent nämlich der Fund von Leichenteilen auf einer Großbaustelle im Stadtzentrum in Trab hält, ist Melia im geheimen Auftrag der Bundeskanzlerin, die von ihrem eigenen Staatssekretär erpresst wird, unterwegs. Dass das eine mit dem anderen zu tun hat, ahnt bereits, wer die ersten drei Bände der Veih-Adan-Reihe des Düsseldorfer Autors Horst Eckert gelesen hat. Und der bietet auch in dem unter dem Titel Die Macht der Wölfe erschienenen neuen Abenteuer des sympathischen Ermittlerpaars, das nun auch privat zusammen ist, Politthrill vom Feinsten und viele Anspielungen auf die aktuelle Situation hierzulande. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein ehrenwertes Haus

Roman | Elisabeth Herrmann: Der Schneegänger Nach ›Das Dorf der Mörder‹ (2013) lässt Elisabeth Herrmann in ihrem neuen Roman ›Der Schneegänger‹ zum zweiten Mal den etwas unzugänglichen Berliner Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring und die junge Polizistin Sanela Beara gemeinsam ermitteln. Beara absolviert inzwischen ein Studium des »Gehobenen Polizeivollzugsdienstes«. Gehring beißt sich die Zähne an einem wieder aktuell gewordenen Fall aus, den er vier Jahre zuvor im ersten Anlauf schon nicht bewältigt hat. Weil es dabei um das verschwundene Kind deutschstämmiger Kroaten ging, das man nun tot gefunden hat, glaubt der Hauptkommissar, in Beara, deren Familie aus Vukovar stammt, die ideale Ko-Ermittlerin

Wer austeilt, muss einstecken

Film | Im TV: ›TATORT‹ Niedere Instinkte (MDR), 26. April Nach zehn Minuten hab‘ ich spontan ausgeschaltet. Ich hatte glaub‘ ich nichts verstanden, kein Stück. Kindesentführung und kein Sexualdelikt. Wasserrohrbruch. Tibetanische Zen-Gesänge. Das ist zu viel, das überfordert jeden. Sicherheitshalber hab‘ ich mich aber doch noch informiert: ein bewährter, erfahrener Regisseur, ein vielversprechendes Ensemble, und zögernd hab‘ ich mich dann eingeklinkt. Von WOLF SENFF