Digitales | Games: Homefront
THQs ›Homefront‹ ist klassische alternative Geschichtsschreibung. Das Szenario, das aus der Feder des Allrounddramaturgen John Milius stammt, beschreibt eine Invasion und anschließende Besatzung der Vereinigten Staaten von Amerika durch nordkoreanische Militärverbände im Jahr 2027. Spielerinnen stoßen während des Spiels auf zahlreiche Versatzstücke der großen dystopischen Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Auch RUDOLF INDERST begibt sich auf die schwarzutopische Spurensuche.
Ein wenig Ideengeschichte hinter dem Dystopischen
Die Geschichte der Utopie als literarische Form hat eine lange Tradition. Im Allgemeinen führt man sie auf die Frühe Neuzeit zurück. Uns interessieren für ›Homefront‹ aber die ungezogenen Geschwister. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Schluss mit der Heiterkeit: Dystopien oder »Schwarze Utopien« dominerten die Utopien. Die Gründe für das nun vermehrte Auftreten von Anti-Utopien (oder Negativ-Utopien) sind verschiedener Natur.
So herrscht in etwa in den Zirkeln des Bürgertums Angst vor einem Umbruch, der sich durch gewalttätige Revolutionen ankündigen könnte – fin de siècle-Niedergangsängste, also das Bewusstsein, in einer zerrütteten und dem Ende zugehenden Zeit zu leben, bestimmten hier das Bild. Utopienforscher Richard Saage argumentiert weiterhin, dass sich das 20. Jahrhundert mit einer Krise des Fortschrittsdenkens konfrontiert sah. Das Verhältnis von Mensch und Maschine änderte sich. Weiterhin, so Saage, hätte die Ausweitung des (technisch/wissenschaftlich) Machbaren keine parallele Ausweitung des Verantwortungssinnes des Menschen mit sich gebracht.
Auch andere Autoren argumentieren ähnlich. Helmut Swoboda in etwa sieht durch die Skepsis im 20. Jahrhundert das Weltbild der Aufklärung, das heißt Anagenese, Bildungsfähigkeit und gute Anlagen des Menschen, zerstört. Entscheidenden Einfluss auf die Dystopie hatte die Weltwirtschaftskrise der 1920er-Jahre, das Aufkommen von Faschismus und Bolschewismus (und später: Stalinismus) sowie die beiden Weltkriege.
Die drei bekanntesten Dystopien des 20. Jahrhunderts sind Wir (1920) von Jewgenij Samjatin, Brave New World (1932) von Aldous Huxley und 1984 (1949) von George Orwell. Oft sehen Anti-Utopien die (höllische) Zukunft schon verwirklicht, während Utopien erst ihren Blick weit ins Kommende schweifen lassen: Dabei wird klar, dass Anti-Utopisten gerade in der Suche und Verwirklichung des Utopischen die eigentliche Gefahr sehen. Eine der psychologischen Hauptstrategien der Anti-Utopik besteht darin, einstmals utopische Ideale umzudeuten und die verheißungsvollen Zukunftsvorstellungen in anderem Licht wiederzugeben.
Das Verhältnis der Utopie zur Anti-Utopie verdient besondere Aufmerksamkeit. Der Autor Stephan Meyer analysiert diese Beziehung exzellent und soll an dieser Stelle ausführlich zitiert werden: »Grundmerkmal anti-utopischen Denkens ist ein sich jeweils mehr oder weniger stark artikulierendes Unbehagen am Utopischen, […]. Dabei zeigt sich im Kern, dass die Anti-Utopik nicht im ureigendsten Sinne ›utopiefeindlich‹ ist. Gerade die ›Negation des Negativen‹ […] motiviert auch Anti-Utopisten zu ihren Werken. In ihrem unmittelbaren Bezug auf die utopische Tradition kann die anti-utopische Kritik deutlich machen, dass utopisches Denken nicht schon selbstverständlich auf Humanität zielt […], sondern dass der zweckrationale und auf dem Primat des Gemeinwohls bedachte subjektfeindliche Funktionalismus von Utopien zu einer strikten Normierung und strengen Affektregulierung des Einzelnen führen muss. Anti-Utopien sind also ein mit utopischen Mitteln arbeitendes Regulativ, ein ›Falsifikationsmodell‹ utopisch formulierter totaler Idealstaatsplanung. Somit sind die einzelnen Anti-Utopien immer zugleich auch ein Stück Rezeptionsgeschichte des utopischen Denkens.«
Punkte der Zuspitzung
In seiner Untersuchung ›Die anti-utopische Tradition‹ hält Autor Stephan Meyer einige sehr bedeutsame Aspekte zum Verhältnis Individuum und Dystopie fest. Er argumentiert, wenn die Utopie ausschließlich ohne Störfälle funktioniere, könne von der anti-utopischen Welt behauptet werden, dass sie ausschließlich funktioniere, wenn sich Störfälle ereigneten. Folglich benötigten die Verfasser dystopischer Romane die Figur des Außenseiters, um ihre Kritik an der von ihnen selbst entworfenen Gesellschaft sichtbar zu machen. Diese Figuren, die Charaktere, und damit auch der Spieler im digitalen Universum, stellen dissidierende Elemente dar, die in einem Prozess des (langsamen oder plötzlichen) Erwachens das Normensystem radikal infrage stellen und zur Handlung verdammt werden. Im Spiel gilt dies besonders, da ohne aktives Handeln des Spielers entfaltet sich kein Spiel, kein »gameplay dystopique«.
Überdurchschnittlich oft bleibt der Außenseiter in Dystopien nicht allein. In der Regel gelingt es ihm, Kontakt zu einer Art von Widerstandsgruppe – sei sie authentisch oder von den Machthabern inszeniert – herzustellen. Wie Stephan Meyer richtig anmerkt, stellen diese Gruppen, die im Übrigen auch ihrerseits auf den Außenseiter zugehen können, Punkte der Zuspitzung dar, an denen sich Fundamental-Dystopisches deklinieren lässt.
Lässt man diese Überlegungen etwas auf sich wirken, dürfte sehr schnell klar werden, dass auch ›Homefront‹ sich der beschriebenen Mechanismen bedient. Rufen wir uns für einen Moment das Grundszenario des First Person Shooters ins Gedächtnis. Die Welt leidet unter den Folgen einer seit 15 Jahren andauernden Energie- und Wirtschaftskrise. Die globalen Märkte sind schon lange zusammengebrochen, und um die schwindenden Rohstoffreserven toben erbittert geführte Kämpfe.
Die einst so stolzen Vereinigten Staaten von Amerika sind gefallen – Infrastruktur und Streitkräfte sind zerstört oder befinden sich in Auflösung. Durch einen heimtückischen Angriff mit einer elektromagnetischen Pulswaffe (EMP) wurden die Strom- und Datennetzwerke des Landes überraschend lahmgelegt, sodass die USA der brutalen Invasion ihres Landes durch die zur Atommacht aufgestiegenen Großkoreanischen Republik nichts entgegensetzen können.
Ohne Unterstützung durch die einstigen Verbündeten sind die Vereinigten Staaten nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Städte werden umkämpft und die Vororte sind menschenleer. Der Polizeistaat hat Sportstadien zu Gefangenenlagern umfunktioniert und große Einkaufszentren in Panzerdepots verwandelt. Die ehemals freien Menschen wurden zu Gefangenen, Verrätern und eine kleine Gruppe zu Revolutionären. Auch der Hauptcharakter kämpft in dieser Welt Seite an Seite mit Mitgliedern einer Widerstandszelle.
Ur-amerikanische Befindlichkeiten?
›Homefront‹ nutzt sehr konsequent das Werkzeug einer alternativen Geschichtsschreibung, um seinen Platz in der Tradition der dystopischen Erzählungen zu finden. Das gelingt dem Actiontitel sehr gut; andere Genrevertreter nehmen sich selten die Zeit, eine vergleichbar dichte Atmosphäre aufzubauen. Vor allem im ersten Drittel des Spieles ist das Erdrückende, die beklemmende Last der Besatzung förmlich mit den Händen greifbar.
Die begleitende Marketingkampagne des Publishers war sehr umfassend. So war in etwa jede Straßenecke während der GDC in San Francisco mit dem mittlerweile sehr bekannten Motiv des amerikanischen Kriegsgefangenen mit der roten Augenbinde zu sehen. Auch der Trailer sorgte für große Aufmerksamkeit; geschickt vermischte THQ echtes Nachrichtenmaterial und Dokumentaraufnahmen mit fiktiven Ergänzungen und Einschüben.
Untrennbar verbunden mit ›Homefront‹ ist auch der Aktienkurssturz des Unternehmens THQ, als die erste Welle von amerikanischen Besprechungen die Metascores des Spiels in die – aus Marketingsicht unverzeihliche – Mittelmäßigkeit drückte. Überraschenderweise waren nur wenig später die europäischen Tester und Spielejournalisten wesentlich freundlicher. Hatte der Titel also doch ur-amerikanische Befindlichkeiten getroffen oder gar verletzt? Erstaunlich oft war in etwa zu lesen, wie unrealistisch das Invasionsszenario sei – was sicherlich zu den letzten Rückzugsgebieten einer ernst zu nehmenden Kulturschelte gehören sollte.
Solide, einprägsam und emotional
Dem Achievement-Hunter und Fastfood-Spieler werden all diese Überlegungen natürlich herzlich egal sein. Was werden er oder sie in ›Homefront‹ sehen? Nimmt man diese Perspektive ein, bleibt ein mittelprächtiger First Person Shooter. Die Grafik ist standesgemäß, der Score teilweise recht aufgeblasen, die Gegner-KI arbeitet Teilzeit und die Waffen unterscheiden sich in ihrer Wirkung kaum. Unbefriedigt wird dieser Spielertyp außerdem feststellen, dass die Gesamtspielzeit der Solokampagne erschreckend kurz ist. Man kann nur dann nur raten, sich auf den Mehrspieler-Part einzulassen. Dieser ist überraschend solide, auch wenn Anfänger sich von Anfang an – wesentlich öfter als bei der Konkurrenz – gemeinen Scharfschützen erwehren müssen, die quer über die gesamte Spielkarte feuern (und treffen).
THQ und KAOS haben mit ›Homefront‹ einen Actiontitel abgeliefert, der erwartungsgemäß in einem Feld von Konkurrenz-Hochkarätern nicht mit Kritiksamthandschuhen angefasst wurde. Das Spiel kann diesen harten Griff allerdings durchaus ertragen, da eine solide Mechanik und ein paar sehr einprägsame, sehr emotionale Momente die Klammer bilden, die ›Homefront‹ zusammenhält.
Titelangaben
Homefront
Entwickler: KAOS Studios
Publisher: THQ
USK: 18
Erhältlich für: PS3, XBox 360, PC