Gesellschaft | Josef Braml: Der amerikanische Patient
Nach einer Analyse von George W. Bushs Außenpolitik im Jahr 2005 legt Josef Braml nun mit Der amerikanische Patient eine provozierend klare Zustandsbeschreibung vor und überlegt, was der drohende Kollaps der USA für die Welt bedeutet. Von WOLF SENFF
Josef Braml stellt sein Buch zurzeit in einigen deutschen Städten persönlich vor, und es hat etwas, jemanden kennenzulernen, der als »Mitarbeiter eines der bedeutendsten amerikanischen Think Tanks« auftritt sowie als vormaliger »Consultant der Weltbank«, jetzt »USA-Experte bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik«. Wie müssen wir uns das vorstellen? Josef Braml als eine der Koryphäen, die seinerzeit eine forcierte Deregulierung betrieben, und einer der Ökonomen, die den Boden für die erbarmungslos neoliberale Politik bereiteten? So wird es sein, aber nun, die Zeiten wandeln sich, ist alles ganz anders.
Heute erwähnt er die Aufhebung des Glass-Steagall Act, der die Trennung von Investment- und Geschäftsbanken vorschrieb, der 1933 unter Roosevelt verabschiedet und 1999 von Bill Clinton rückgängig gemacht wurde, als einen Sündenfall und wesentliche Ursache der Finanzkrise. Vom Saulus zum Paulus? Was sagt uns das?
Aber zu Josef Bramls Publikation. In erfreulicher Klarheit wird dem Leser der desolate Zustand der USA präsentiert. Die offiziell mitgeteilte Arbeitslosigkeit von 8,1% liege aufgrund der Tatsache, dass Langzeitarbeitslose aus der Statistik fallen, real bei konservativ geschätzt 20%. Braml sieht beispiellose Einkommensdisparitäten; die Supervermögenden, die Occupy bei einem Prozent der Bevölkerung sehe, lägen realistisch bei einstelligen Promillezahlen. Die USA sei tief in ökonomische, soziale und energetische Probleme verstrickt, die Verschuldung der privaten wie der staatlichen Haushalte – Kosten für den Irakkrieg 700 Mrd. $, für Afghanistan 300 Mrd. $ – sei katastrophal, die politischen Handlungsmöglichkeiten begrenzt.
Die Probleme wüchsen gleichsam exponentiell. Beim Thema Verwahrlosung der öffentlichen Versorgung steche der marode Bildungssektor hervor, der die Versorgung mit qualifizierten Berufsanfängern nicht gewährleiste. Dreißig Prozent der nachwachsenden Latinos und Schwarzen würden gar nicht erst ausgebildet. Zwar sei der Zustrom von Latinos und Mexikanern wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten versiegt, aber das werde nicht kompensiert, da die interne Mobilität in den USA aufgrund der Immobilienkrise ebenfalls der Vergangenheit angehöre.
Nein, die USA bewegten sich nicht in einer konjunkturellen »Delle«, sondern sähen sich mit massiven strukturellen Problemen konfrontiert, die bislang stets durch das bekannte Leben auf Pump mithilfe des Leitwährungscharakters ihres Dollars übertüncht wurden.
Die nicht bewältigte Immobilienkrise
Der Autor zeigt die tatsächliche und aktuelle Tragweite der Immobilienkrise, die in der deutschen öffentlichen Wahrnehmung kaum noch eine Rolle spielt: 1,4 Mio. Zwangsvollstreckungen 2008, 1,8 Mio. in 2009 und noch einmal 2,5 Mio. (Schätzung der US-Regierung) im Jahr 2011. Der neoliberale Traum, »eine Gemeinschaft von Eigentümern in Amerika« (George W. Bush) zu schaffen, erweise sich als Alptraum, der übergangslos in Verelendung der Mittelschichten führe.
Zurzeit seien neun von zehn Hauskrediten direkt oder indirekt durch staatliche Stellen gesichert, zumeist von den de facto verstaatlichten Hausfinanzierern Fannie Mae und Freddie Mac, und der beginnende Rückzug des Staates werde zu weiteren erheblichen Belastungen auf dem Immobilienmarkt führen. »Die katastrophale Lage auf dem Markt für unbewegliches Vermögen macht auch die Menschen unbeweglich. Viele arbeitslose Amerikaner können nicht einfach in eine andere Region umziehen, um dort eine Arbeit zu suchen und wieder ein Einkommen zu erzielen, weil sie ihre Häuser nicht veräußern können oder diese weit unter Wert verkaufen müssten.«
Man ist erschüttert ob der faktenreichen Beschreibung eines katastrophalen Zustands. Sei es Inflationsgefahr, der Leitwährungscharakter des Dollars, die hohe Energieabhängigkeit (der Preis für ein Fass Rohöl stieg von 25 $ im Jahr 2003 auf über 140 $ im Jahr 2008) – Josef Braml sieht die USA »in einer Zeit dynamischer gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Umbrüche« und beschreibt als Kern »die sozialen Gleichgewichtsstörungen, die politische Ohnmacht, die wirtschaftlichen Herzrhythmusprobleme und die energetische Antriebsschwäche der vom Kollaps bedrohten Supermacht«.
Diese überzeugende und vorurteilsfreie Zustandsbeschreibung umfasst den größeren Teil dieser Publikation. Ein gedanklicher Bruch deutet sich jedoch bereits im Titel an. Ein »Patient« benötigt Hilfe. Aber davon ist keine Rede, im Gegenteil. Denn die Probleme, so eine Überleitung des Verfassers, »werden den amerikanischen Patienten daran hindern, seine Interessen so unschuldig zu vertreten wie bisher.« So unschuldig »wie bisher«? Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Irak? Wir erinnern uns: Außenminister Powell belog die Weltöffentlichkeit, damit die Invasion in den Irak begründet werden konnte, ein beispielloser Bruch diplomatischer Gepflogenheiten.
Unschuldig wie bisher. Die USA liegen mit 2,3 Mio. Gefängnisinsassen weltweit konkurrenzlos vorn, gefolgt von China, das viermal so viele Einwohner hat, von denen 1,6 Mio. hinter Gittern sitzen. Die Gefängnisse sind in den USA privatwirtschaftlich und profitbringend organisiert, wir würden sie nüchtern und treffend als Arbeitslager bezeichnen – auch die innenpolitische Situation ist explosiv, von hoher Aggressivität geprägt. Nein, auch diese nicht »unschuldig wie bisher«. Und kein Wort mehr von einem »Patienten«. In dieses Bild passt nun auch die Erwähnung der Drohne, die für Josef Braml lediglich eine Effektivierung der Kriegführung darstellt und den Vorzug hat, auch noch kostengünstig zu sein. Die Botschaft, dass die Rolle der USA als Weltpolizei ausgespielt ist, ist bei Josef Braml nicht angekommen. Bei aller Offenheit und Präzision seiner Analyse entsteht im Kontext dennoch der Eindruck, dass es sich bei dem Autor um einen konservativen Hardliner, einen »Betonkopf«, handelt.
Regulierung des Marktes?
Man mag ebenfalls bedauern, dass Josef Bramls Analyse so sehr auf ökonomische Zusammenhänge abhebt. Detailreich widmet er sich den Energiereserven Zentralasiens und den dadurch geweckten Begehrlichkeiten. Dass »Wachstum« und »Fortschritt« inzwischen als problematische Kategorien diskutiert werden, ist bei Josef Braml ebenfalls nicht angekommen. Kernenergie als Problembereich ist für ihn kein Thema. Statistisch gesehen ereignet sich alle 23 Jahre ein schwerwiegender Unfall; wir haben das mit Tschernobyl und Fukushima recht präzise erleben dürfen. Man wüsste gern, ob das ökonomische Risiko überhaupt kalkulierbar ist und welche Eckpfeiler der Staat zu setzen hätte.
Zum »Kurswechsel in der globalen Energie- und Klimapolitik« referiert der Autor verschiedene Positionen und sieht für die USA »die Chance, als Führungsmacht voranzuschreiten bei der Lösung der globalen Energie-, Sicherheits-, Umwelt- und Wirtschaftsprobleme« – wir erinnern uns an das Kyoto-Protokoll, 2005 in Kraft getreten, das verbindliche Zielwerte für den Ausstoß von Treibhausgasen festlegt. Die USA sind dem nie beigetreten.
Das Problem der Gegenwart sind die fundamentalen Gefährdungen des natürlichen Lebens. In diesem Thema liegt der Schlüssel für eine Beschreibung zukünftiger Notwendigkeiten.
Beispiel Deepwater Horizon: Josef Braml zitiert Newt Gingrich: Dieser Unfall sei »eine Tatsache des modernen Lebens«. Wenn schon Josef Braml sich hier um eine moralische Wertung drückt, wüsste man von ihm doch gern mehr über die ökonomischen Implikationen eines solchen »Unfalls« und über Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Was war vor einigen Jahren vor Alaska? Gibt es nicht ein jämmerliches Sterben der Delphine und Pelikane vor den Küsten Perus? Lebensbedrohende Verschmutzung der Meere? Knappheit von Ressourcen wie z. B. Wasser?
Ein sinnvoller Beitrag der Ökonomie wäre zum Beispiel eine Kosten-Nutzen-Rechnung der Tiefsee-Bohrungen, und zwar unter Berücksichtigung der Schäden inklusive der Folgekosten; dringend erforderlich wäre jemand, der die gegenwärtig so reduzierte Wahrnehmung der Ökonomie ergänzt. Und wenn schon Ökonomie, dann hätte man sich eine Einschätzung der geradezu wahnwitzigen Rüstungsausgaben gewünscht; es reicht nicht aus, eine größere Beteiligung der europäischen Bündnispartner zu verlangen, diese Fragen müssen heutzutage auch unter moralischen Gesichtspunkten diskutiert werden. Gibt es einen nachvollziehbaren Grund, dass in der Öffentlichkeit nicht länger über Abrüstung diskutiert wird?
Das wäre ein Schritt in die politischen Zusammenhänge, und es ist zu bedauern, dass ein erfahrener und detailkundiger Mann wie Josef Braml zurückhaltend auftritt. Zwar ist er im Detail prägnant und immer sachkundig – er empfiehlt kollektive Anstrengungen zur Weiterentwicklung und Vermarktung erneuerbarer Energien sowie die Kürzung von Subventionen auf fossile Brennstoffe –, aber das Thema staatlicher Regulierung der »Märkte« ist für ihn tabu: »Staat versus Markt – eine ideologische Auseinandersetzung«; er weicht in diesem zentralen Bereich aus und begibt sich der Möglichkeit, politische Perspektiven zu entwerfen. Die inneramerikanische Debatte stellt sich ihm dar als »Ideologisierung von Wissenschaft und Politik«.
Josef Braml legt sich Scheuklappen an. Denn nein, das ist keine »ideologische« Debatte. Die Grenzziehung zwischen »Staat« und »Markt« ist brennend aktuell, in Zeiten der Finanzkrise müssen Lösungen her, und möglicherweise wird Josef Braml im persönlichen Gespräch eine Auskunft geben, die ebenso präzise ist wie seine Analyse des Status quo.
| WOLF SENFF
Titelangaben
Josef Braml: Der amerikanische Patient. Was der drohende Kollaps der USA für die Welt bedeutet
München: Siedler 2012
224 Seiten, 19,99 Euro