Sachbuch: Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel
PETER KLEMENT begibt sich zu den Quellen der Spieleforschung (engl.: ›Game Studies‹) und trifft dort einen Mann namens Huizinga, der sich in seinem Buch ›homo ludens‹ mit magischen Kreisen und den Wurzeln der menschlichen Kultur beschäftigt …
Das Spiel ist älter als die ersten Spuren menschlicher Kultur, denn es ist nicht nur auf menschliches Leben beschränkt, sondern in verschieden Formen und Funktionen auch im Tierreich zu finden. Für Johan Huizinga ist daher der homo ludens (lat.: spielender Mensch) eine unumgängliche Voraussetzung für Entstehung und Erhalt von Kultur in ihren verschiedenen Formen. Denn Kultur braucht Regeln! Und diese entstehen in der magischen Grauzone zwischen Determination und freiem Handeln. Es folgt ein Ausflug in eine magische Welt, in welcher Zauberstäbe optional, Spielregeln aber Pflicht sind.
Magische Kreise
Ein Schachbrett, ein Altar und ein Stück Wiese haben eine Sache gemeinsam: Sie sind allesamt magische Orte, in denen Raum und Zeit plötzlich eine andere Bedeutung haben. Doch diese Orte können nur erkannt und genutzt werden, wenn man die Zeichen zu deuten versteht: Wer Schach oder Dame nicht kennt, für den ist ein Schachbrett nur ein Stück Holz mit einem hübschen Muster. Für jemand ohne Wissen über Fußball ist ein Tor auf einer Wiese bestenfalls kurios und Holzverschwendung. Erst mit der Kenntnis der Regeln können wir den magischen Kreis betreten und darin spielerisch sinnvoll handeln. Zwar kann jeder eine Schachfigur bewegen oder gegen einen Ball treten, doch um die Magie des Spiels zu wirken, bedarf es deutlich mehr als das.
Spiel ist ein eigener Raum, der sich nur bedingt erklären lässt, denn biologische, psychologische und kulturelle Definitionen greifen laut Huizinga zu kurz, da sie auf der ewigen Suche nach dem Sinn sind. Doch Spiel ist und bleibt immer auch Unsinn. Die große Leistung von Huizinga ist, eine Definition des Spiels als eigenes System zu geben, die Sinn stiftet, aber dem Unsinn seinen Raum lässt:
»Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und die mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raumes vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anderes als die gewöhnliche Welt herausheben.«
Johan Huizinga: ›Homo Ludens‹. Vom Ursprung von Kultur und Spiel, Hamburg 1956. S.20.
Mit dieser Definition, die Spiel als eigenen Raum begreift, der überall, in allen möglichen Formen entstehen kann, befreit Huizinga das Spiel aus dem Korsett der Zweckmäßigkeit; denn das Spiel ist unendlich alt und noch immer ein Mysterium, das sich wissenschaftlicher Analyse entzieht: Denn warum spielen wir? Weil es Spaß macht! Doch was diesen Spaß erzeugt, das können wir bis heute nicht mit Sicherheit voraussagen, trotz einiger Jahrtausende Spielerfahrung unserer Spezies. ›Minecraft‹ ist aktuelles Beispiel für ein solches unvorhersehbares Phänomen, das Millionen aus dem Nichts wieder zu Kindern im Sandkasten macht und das in Zeiten, in denen es Mode ist, in brauner Kleidung graue Gewehre durch trostlose Kriegsgebiete zu schleppen.
Kult, Kultur, Computerspiele
Das Spiel konstituiert einen eigenen Raum mit eigener Zeit, der von den Teilnehmern des Spiels freiwillig betreten wird und in dem Regeln wirksam sind, die für alle innerhalb dieses Raums gelten. Dadurch erschafft es Gruppen, die wiederum Institutionen schaffen, die sich auf ein Spiel oder eine Spielkategorie beziehen: Clans, Clubs oder Vereine sind essenziell dasselbe: Wächter über einen magischen Kreis, der für Huizinga auch religiöse und kultische Züge annehmen kann – um das bestätigt zu wissen, reicht es, die kommende EM abzuwarten, in der Fußball von der ganzen Nation auf den ludischen Thron gehoben wird.
Doch auch die junge Gamerszene ist ein exzellentes Beispiel für ein solches Wachstum: Vor einigen Jahren noch handliche Prügelknaben der Massenmedien haben die Anhänger digitaler Spiele inzwischen eigene Institutionen herausgebildet, die ihre magischen Kreise schützen und sogar RTL und Co. verdutzt und mit blutiger Nase nach Hause schicken.
Mit Huizinga wurde das Spiel als eigene Kategorie etabliert, zu deren Verteidigung die Ludologen in der Geburtsstunde der game studies gegen die Narratologen ins Feld zogen. Zur Erklärung: Narratologie fasst alles, und damit auch Spiele, als erzählte Geschichte auf, also als ein abgeschlossenes Ereignis, über das berichtet werden kann. Ludologie hingegen fasst Spiele als eigenständige Systeme auf, die immer wieder neue und nicht vorhersagbare Ergebnisse produzieren. ›Homo Ludens‹ ist das Epizentrum der Debatte zwischen den beiden Analysemethoden und eine noch immer aktuelle Erinnerung, dass das Spiel sich durch alle Kulturen und kulturellen Ebenen zieht.
›Homo ludens‹: Als Einstieg in die junge Disziplin game studies unverzichtbar und als Gegenpol zum ›homo faber‹ hochwillkommen – und obendrein für einen wissenschaftlichen Text extrem kurzweilig zu lesen.
Kultig, klug, konfliktlastig
Titelangaben
Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel
Hamburg: Rowohlt 2015 (24. Aufl.)
254 Seiten, 9,99
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