/

Die Oper des 20. Jahrhunderts schlechthin

Film | DVD: Alban Berg – Lulu

Nur zwei Jahrzehnte liegen zwischen der Entstehung des Rosenkavaliers und der Fragment gebliebenen Lulu. Was aber bei der Oper von Richard Strauss irritiert (und manche Fans gerade begeistert), dass Hugo von Hofmannsthal ein völlig anachronistisches Libretto beigesteuert hat, trifft auf Alban Bergs zweite Oper nicht zu: Hier haben mit Wedekinds Stück, das er aus seinem Erdgeist und der Büchse der Pandora kombiniert hat, und der Komposition des Schönberg-Schülers zwei Kunstformen zusammengefunden, die auf der Höhe der Zeit standen und bis heute den Anspruch der Modernität bewahrt haben. Von THOMAS ROTHSCHILD

Berg - LuluLulu ist eine Provokation für jeden Regisseur und jedes Publikum geblieben, was sich auch an den widersprüchlichen Reaktionen auf die Inszenierung der Salzburger Festspiele von 2010 ablesen lässt, die jetzt als Doppel-DVD vorliegt.

So einhellig positiv, wie der Jubeltext des Lohnschreibers im Beiheft suggeriert, war die Kritik jedenfalls nicht – und in diesem Fall trat auch nicht die gewohnte Zweiteilung in »konservative Österreicher« und »aufgeschlossene Deutsche« ein. Die FAZ bemängelte: »Nemirovas phantasievolle Einfälle wollen sich nicht wirklich zu einem stimmigen Bild fügen.« Die Welt befand: »Die Inszenierung blieb fade und ohne These.«

Und Die Presse präzisierte aus Wien: »Wenn Nemirova freilich geholt worden ist, um den im bisherigen Festspielsommer szenisch eher verschlafenen Opernbetrieb drastisch wachzurütteln, dann hat sie ihr Plansoll nicht erfüllt. Für den genau definierten historischen Ort, die damit verbundenen Konventionen und die von Alban Berg so minuziös entworfene Bogenform des Ganzen (der Abstieg Lulus in die Gosse und das tödliche Ende haben einst das skandalös-unfeine Sujet in gewisser Weise ›moralisch‹ legitimiert) interessiert sie sich ebenso wenig wie für den in Wedekinds Lulu-Dramen vorgezeichneten, aus Groteske, Überzeichnung und Absurdität gespeisten Antirealismus – der wiederum nur in einem realistischen szenischen Rahmen seine Wirkung entfalten kann.«

Dem widerspricht der konkurrierende Standard: »Vera Nemirova hat schon mehrfach ihren Anspruch untermauert, Irritationen in ihre Inszenierungen einzubauen und Opernhandlungen weiterzuerzählen. Denkanstöße zu geben und gesellschaftliche Implikationen der Stücke aufzuzeigen erschien dabei zuweilen wichtiger als absolute Schlüssigkeit. Dennoch: Wer genau hinsieht, entdeckt bei ihr zwingende Handlungszusammenhänge, die auf genaue Analysen schließen lassen.«

Mittel- und Höhepunkt dieser Aufführung der von Friedrich Cerha kongenial komplettierten Fassung ist Patricia Petibon. Sie ist, gesanglich, schauspielerisch wie als Typus die ideale Besetzung für die Titelrolle schlechthin. Sie hat jene unschuldigen Kinderaugen, von denen im Text die Rede ist, und sie hat jene erotische Ausstrahlung, die glaubwürdig macht, dass die Männer dieser Kindfrau, diesem »Tier« verfallen. Sie ist in jeder Bewegung Täter und Opfer zugleich, Produkt und Spielball einer gnadenlosen Männerwelt, für die nichts so viel gilt wie das Geld. Wenn sie mordet, ist ihre eigene Ermordung vorgezeichnet. Sie hat mit Brechts selbstbewussten Huren mehr zu tun als mit den frommen Prostituierten Dostojewskis. Aber Wedekind und Berg romantisieren ihr Schicksal nicht. Wenn sie am Ende von Jack the Ripper getötet wird, den der Sänger ihres Gönners Dr. Schön zu verkörpern hat, dann ist das nur noch schrecklich und armselig.

Für die Salzburger Inszenierung hat Dieter Richter ein knalliges Bühnenbild geliefert, das sich zu verselbständigen droht, die Schauplätze aber ins Symbolische überhöht. Die bulgarische Regisseurin Vera Nemirova setzt auf maximale Sinnlichkeit. Sie rückt mit dem Geschehen dem Publikum buchstäblich auf die Pelle, wenn sie nach der zweiten Pause, zu Beginn des dritten Akts, über längere Zeit im Zuschauerraum spielen und singen lässt und unmissverständlich zu verstehen gibt, dass dort genau Lulus Kundschaft sitzt, die »bessere Gesellschaft«, die ausbeutet, was sie verachtet.

Dem Ensemble wird nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch viel abverlangt, und es bewältigt die Aufgabe mit Bravour. Dabei beweisen die Wiener Philharmoniker unter Marc Albrecht, dass ihnen die Zweite Wiener Schule längst nicht mehr so fremd ist, wie es noch vor einiger Zeit schien. Eine neue Generation von Musikern ist herangewachsen, die mit dieser Tonsprache nicht nur technisch (das sowieso), sondern auch interpretatorisch höchst differenziert umzugehen vermag.

| THOMAS ROTHSCHILD

Titelangaben
EuroArts/Unitel Classica
2 DVDs

Aufnahme:
Live from the Haus für Mozart, Salzburg Festival 2010

Musik:
Wiener Philharmoniker

Interpreten:
Lulu – Patricia Petibon
Countess Geschwitz – Tanja Ariane Baumgartner
The Painter / A Negro – Pavol Breslik
A Theatrical Dresser / A High-School Boy / A Groom – Cora Burggraef
Dr. Schön, Editor-in-chief / Jack the Ripper – Michael Volle
Alwa – Thomas Piffka
Schigolch – Franz Grundheber
An Animal Tamer / An Athlete – Thomas Johannes Mayer
The Prince / The Manservant – Heinz Zednik
The Marquis – Andreas Conrad
The Theatre Manager / The Banker – Martin Tzonev
A Fifteen-year-old girl – Emilie Pictet
Her mother – Cornelia Wulkopf

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Unwohlfühl-Shooter

Nächster Artikel

Wertvolle Einblicke

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

Der Tanz auf dem Vulkan

Bühne | ›Cabaret‹ im Staatstheater Darmstadt Es wirkt wie eine Warnung, wenn das Staatstheater Darmstadt in sorgenvollen Zeiten – in denen eine depolitisierende Unterhaltung und ein aufsteigender Rechtsextremismus vermeintlich besorgter Bürger sich abwechseln – das Musical ›Cabaret‹ auf die Bühne bringt: ein Stück, das am Ende der Weimarer Republik in Berlin spielt, ein Stück über Protagonisten, die in einem Kabarett ausgelassen feiern und sexuelle Ausschweifungen genießen, um die finanziellen und politischen Nöte zu vergessen, während draußen der Nationalsozialismus langsam die Kontrolle übernimmt. Die Regisseurin Nicole Claudia Weber, der musikalische Leiter Michael Nündel und der Choreograph Christopher Tölle haben das Musical

Der Dezember wird rockig

Live | Bühne: Rock of Ages ›Rock of Ages‹ kommt erstmals nach Deutschland. Mit im Gepäck haben die Darsteller viel ironische Rock-Nostalgie der 80er Jahre. Die Liebesgeschichte von der Kleinstadtschönheit Sherrie und dem Großstadtrocker Drew ist voller Tempo, Witz und Rebellion am legendären Sunset Strip von L.A. ANNA NOAH freut sich auf die Uraufführung.

Das Selfie entert das Theater

Bühne | Die Stadt der Blinden: Deutsches Schauspielhaus Hamburg Die Romanvorlage zeichnet das Szenario einer Seuche, einer gefährlichen plötzlichen Erblindung, die auf Infektion zurückzuführen ist. Für die erblindeten Opfer ist ein separates, umzäuntes Lager eingerichtet, zur Außenwelt besteht Kontaktverbot. Von WOLF SENFF

Keinen König, keine Helden mehr!

Bühne | Iphigenie auf Tauris – Staatstheater Karlsruhe Der Schwerpunkt liegt auf der Betonung der Weite des Meeres und der Sehnsucht nach Freude und einem Zuhause. Deshalb sind die 19 Gestrandeten, Asylbewerber aus den Gemeinschaftsunterkünften in Karlsbad-Ittersbach und Rheinstetten, ins Stück integriert. Das wirkt nicht deplatziert, sondern integriert sich bestens ins Stück. Von JENNIFER WARZECHA

Eloquenz und Kalauer

Menschen | Zum 80. Geburtstag des kulturellen Tausendsassas Hellmuth Karasek »Manchmal fürchtete ich schon, ich schreib mich in eine Depression hinein«, bekannte Hellmuth Karasek über die Arbeit an seinem 2006 erschienenen Band Süßer Vogel Jugend. Der kulturelle Tausendsassa mit der stark ausgeprägten Affinität zur Selbstironie sprüht aber immer noch vor Tatendrang und hat im letzten Frühjahr unter dem Titel Frauen sind auch nur Männer einen Sammelband mit 83 Glossen aus jüngerer Vergangenheit vorgelegt. Sogar prophetische Züge offenbart Karasek darin, sagte er doch den Niedergang der FDP schon zwei Jahre vor der letzten Bundestagswahl voraus. Von PETER MOHR