Kampf den Tigerhaien

Sachbuch | Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern

Jean Ziegler, der streitbare und nicht minder umstrittene Globalisierungskritiker und UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung beschreibt in seinem Buch Wir lassen Sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt die Tragödie der weltweit grassierenden Unterernährung. Die Lösung dieser humanitären Katatrophe liege demzufolge nicht fern, scheitere jedoch oft genug an Bürokatie und Ignoranz. Das Buch schildert Erfolge und Versagen im Kampf gegen die globale Ernährungskrise. Von JÖRG FUCHS

Ziegler - Wir lassen sie verhungernAlle fünf Sekunden stirbt auf dieser Welt ein Kind an den Folgen von Mangel- und Unterernährung, jeder siebte Mensch auf der Erde ist schwerstens unterernährt. Jean Ziegler kennt und nennt diese Zahlen, weiß aber auch, dass er mit statistischen Aussagen seine Leser vom Thema distanziert. Daher schildert er die Schicksale von Betroffenen in schonungsloser Härte, um den Vorhang aus Zahlen, der den Blick auf die humanitäre Katastrophe verschleiert, wegzureißen. Gute und gut gemeinte Ratschläge zur Eindämmung von Ernährungskrisen gibt es viele – doch in Zieglers Augen verhindern endlose Debatten in Gremien, akademische Diskussionen und nutzlose Projektentwürfe häufig rasche und durchschlagende Hilfe.

In den sechs Teilen seines Buches Wir lassen sie verhungern beschreibt der Schweizer seine Erfahrungen als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Zunächst schildert er den Hunger als körperliche Erfahrung in seiner ganzen Schonungslosigkeit; in den weiteren Kapiteln setzt er sich mit der Hilfs- und Verwaltungsarbeit staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Organisationen auseinander. Er erläutert, wie der Agrarsektor zunehmend als Spekulationsobjekt ausländischer Fonds und Konzerne (Ziegler nennt sie aufgrund ihrer Aggressivität ›Tigerhaie‹) sowie lokaler Potentaten missbraucht wird. Im letzten Kapitel setzt er sich gezielt mit denjenigen auseinander, die seiner Ansicht nach Schuld daran haben: die ›agroindustriellen Beutejäger‹ in Form von Spekulanten, Banken und Konzernen.

Wie in vielen seinen Büchern und Beschreibungen schont er den Leser nicht. Schmerzhaft sind seine Beispiele, drastisch seine Schilderungen wie der Bericht über die grauenhaften Noma-Krankheit, die auf Unterernährung bei Kindern zurückzuführen ist und deren Gesichter förmlich schmelzen lässt – bis diese monströsen Ungeheuerlichkeiten gleichen. Im krassen Gegensatz zu den individuellen Betroffenheiten stellt er die nüchternen Schilderungen der nicht immer erfolgreichen, teilweise sogar kontraproduktiven Bemühungen durch Behörden und Nichtregierungsorganisationen, auf Hungerkatastrophen zu reagieren.

Der Acker als Spekulationsobjekt

Lobenswert ist die Tatsache, dass Ziegler die Menschen in seinen Betrachtungen nicht als wehrlose Opfer von Unmündigkeit und Hilflosigkeit abqualifiziert (wie es uns manche Spendenkampagnen gerne suggerieren), und sie somit einer fürsorglichen »Leitung« durch NGOs und Verwaltungsbehörden anheimstellt. Stets nennt er die Gründe, warum Menschen in ausweglose Situationen geraten oder getrieben werden. Exemplarisch schildert Ziegler die sozialen Folgen der Landnahme (›Land grabbing‹) in vielen sogenannten ›Drittwelt- und Schwellenländern‹ mit ihren häufig nur schwach ausgeprägten Besitzverhältnissen des (Acker-) Bodens stattfindet. In diese Besitzlücke stoßen die ›Tigerhaie‹ und kaufen für wenig Geld massenhaft Grundstücke. Diese werden nach Gewinnsteigerungen weiterveräußert oder zum Anbau von lukrativen Pflanzen durch westliche oder asiatische Großkonzerne genutzt. In vielen Gegenden, beispielsweise dem Sudan, wurden die bis dahin ansässigen selbstständigen Kleinbauern vertrieben oder als Tagelöhner mit Elendsverdiensten abgespeist. Insgesamt wurde im Jahr 2010, laut Ziegler, in afrikanischen Staaten von europäischen und amerikanischen Banken sowie asiatischen Staatsfonds Grundbesitz in einer Größenordnung von fast 60 Millionen Fußballfeldern erworben. Diese Form der Landnahme durch Spekulanten zieht häufig katastrophale Folgen für die Bevölkerung nach sich. Neben der Verelendung und dem zerbrechen der sozialen Strukturen durch Vertreibung und Tagelöhnerei prangert Ziegler Umweltzerstörungen durch Rodung und den Anbau von gewinnträchtigen Monokulturen sowie Spekulation mit den Feldfrüchten durch westliche Hedgefonds an.

Es wäre für Ziegler ein Leichtes gewesen, an dieser Stelle abzubrechen, um die Ungerechtigkeiten des globalen ›Land grabbings‹ durch die ›Tigerhaie‹ als besonders verwerflich anzuprangern. Stattdessen zeigt er auch die Resonanz der Zivilgesellschaft, die sich, vor allem in zahlreichen afrikanischen Staaten, in Widerstand und Wehrhaftigkeit ausdrückt. So schlossen sich in Niger zahlreiche Gewerkschaften und Bauernverbände zu einem schlagkräftigen Verband zusammen, um – mit beachtlichen lokalen Erfolgen – weiteren Landraub zu verhindern. In Benin, wo die Regierung brachliegendes Ackerland als Spekulationsobjekt nutzt, aber zugleich Getreide und Reis importieren muss, führt die Bauerngewerkschaft Synergie paysanne einen erfolgreichen Kampf gegen illegale Landnahme.

Lösungen?

Diese Beispiele verdeutlichen die Intention des Autors: Anhand konkreter Beispiele, die er von der Ursache bis hin zu – erfolgreichen oder gescheiterten – Lösungsansätzen umfänglich beschreibt, will er ein Bewusstsein dafür schaffen, dass in der Regel nicht die eigene Unmündigkeit der Zivilgesellschaften in Drittwelt- und Schwellenländern schuld an vielen Miseren ist. Stattdessen werden dort – durch westliche und asiatische Banken, Fonds und Konzerne, teilweise unter der Mitwirkung korrupter Regime – gewachsene soziale Strukturen dem Profitstreben der Spekulanten geopfert.

Neben den Lösungsansätzen für konkrete Katastrophenfälle zeigt Jean Ziegler zahlreiche – mehr oder weniger radikale – Änderungsvorschläge, vor allem aufseiten von institutionalisierten Verwaltungs- und Konzerneinheiten. So fordert er neben dem Kampf gegen den allgemeinen Sittenverfall in den Führungseliten stärkere gesetzliche Einflussnahme auf Agrarkonzerne und Börsenspekulanten, die juristische Vorrangigkeit des Rechtes auf Nahrung, das Verbot von Biotreibstoffen sowie die stärkere Unterstützung lokaler Graswurzelorganisationen und Aktivisten.

Das Buch bewirkt beim Lesen mehrerlei: Die teils hoffnungslos scheinenden Exempel lassen uns Leser nicht kalt. Aber Ziegler verharrt nicht in der unreflektierten Darstellung des »Elendstourismus«, sondern zeigt, wie engagierte lokale und ausländische Initiativen, oft ohne Unterstützung zwischenstaatlicher Institutionen erfolgreiche Arbeit vor Ort leisten, ohne den Betroffenen die Würde zu rauben und sie zur Unmündigkeit zu verdammen. In seiner schnörkellosen, fast atemlosen Art, hetzt uns Ziegler durch die sechs Kapitel dieses Buches, so als ob er Angst hätte, man könne es aus der Hand legen, bevor seine Botschaft uns erreicht hätte.

Diese Sorge ist unbegründet!

| JÖRG FUCHS

Titelangaben
Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt
München: Bertelsmann 2012
320 Seiten. 19,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Menschen im Salon

Nächster Artikel

Kunstvoll rund wie die Null

Weitere Artikel der Kategorie »Sachbuch«

Klein; aber oho!

Sachbuch | Sandra Leitte: Winzig²

Es ist klein, quadratisch und enthält so viele praktische Hinweise und Anregungen. Und so wie das Buch ist auch sein Thema: Wer sich für die Tiny-House-Bewegung interessiert, die ein ganz neues Leben auf kleinstem Raum propagiert, der findet hier auf über 200 reichlich bebilderten Seiten viel Auswahl, die noch viel mehr Fantasie anregen, meint BARBARA WEGMANN.

Narziss und Dichter

Sachbuch | Gunnar Decker: Rilke. Der ferne Magier

In seinem Leben spielten Frauen von Beginn an eine dominante Rolle, in dem nicht nur seine Mutter Phia, seine Ehefrau Clara und seine Tochter Ruth ihren Part einnahmen, sondern auch Frauen wie Franziska zu Reventlow, Lou Andreas Salomé und Paula Modersohn Becker Einfluss auf Leben und Dichten Rainer Maria Rilkes nehmen sollten, erfahren wir von seinem Biografen Gunnar Decker. Lou Andreas Salomé, ist es auch, die ihn später dazu bewegt, seinen Namen zu ändern, den er bei der Geburt erhielt. Am 4. Dezember 1875 wurde er als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke in Prag geboren. Von DIETER KALTWASSER

Vorsicht vor Frauen und Schnaps

Gesellschaft | Leitfaden für britische Soldaten 1944 Spätestens seit die US-Regierung auf den 9/11-Terror mit Bombeneinfällen im Irak reagierte, kennt man auch im friedensverträumten Deutschland das Wort »Exit-Strategie«. Man sollte, besagt es, nicht irgendwo einfallen, wenn man nicht weiß, wie man wieder rauskommt. Das leuchtet selbst Zivilisten ein, ist aber nur der zweite Schritt. Der erste – für den zweiten unabdingbare – scheint in neuen »asymmetrischen« Kriegen fatalerweise wegtechnologisiert zu sein: Man sollte das Land, in das man einfällt, sehr gut kennen. Nicht nur die Geo- und Topographie samt Klima, sondern die Menschen und deren Geschichte, Kultur, Lebensart, Mentalität. Mit

Unruhe in Europas Hinterhof

Gesellschaft | Marc Engelhardt: Heiliger Krieg – heiliger Profit Vor Somalia ist die Bundesmarine präsent, in Darfur und im Südsudan die Bundeswehr zu Land, seit neuestem auch in Mali. Geht es nach Frau von der Leyen wird sie demnächst auch in der Zentralafrikanischen Republik aktiv werden. Warum das am Ende sogar nötig sein könnte, will uns Marc Engelhardt in »Heiliger Krieg, heiliger Profit« sagen. Von PETER BLASTENBREI

Hier steht die Zeit still

Sachbuch | Sissi Pärsch: Unsere schönsten Hütten

50 Hütten, die Vieles gemeinsam haben: die Ruhe, die gigantische Aussicht, das »Andere-Welt-Feeling« und so manche Geschichten. Klar, und: den Aufstieg. Alles machbar, alles so entrückt und so traumhaft schön und alles verflixt lecker, nicht nur die Bilder. BARBARA WEGMANN ist auf den Geschmack gekommen.