Wie wir morgen leben

Kulturbuch | Hans-Jörg Bullinger/ Brigitte Röthlein: Morgenstadt Wie wir morgen leben

Die Metropolen der Welt wachsen mit atemberaubender Geschwindigkeit. Schon heute lebt mehr die Hälfte der etwa 7 Milliarden Menschen in ihnen. Professor Hans-Jörg Bullinger, bis vor kurzem Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft – der größten Organisation für angewandte Forschung in Europa – und Wissenschaftsautorin Brigitte Röthlein präsentieren Denkanstöße für die zukünftige Gestaltung unserer Städte. Von TOM ASAM

MorgenstadtStädte verbrauchen drei Viertel aller Ressourcen. Ihre Bewohner produzieren Unmengen von Abgasen und Müll, der Verkehr kommt immer öfter zum Erliegen. Die Tendenz der Zunahme der städtischen Bevölkerung verlangt Gegenentwürfe zu Fehlentwicklungen, die auf Bedingungen überholter städtischer Realitäten beruhen. In Morgenstadt sammeln Hans-Jörg Bullinger und die Wissenschaftsjournalistin Brigitte Röthlein Visionen, wie Städte effizienter gestaltet werden und vom Problemfall zum Zentrum der Lösung etlicher Probleme werden können. In der Zukunft sollen die Probleme von Megastädten und Ballungsräumen vor allem mit dem Einsatz modernster Technologie angegangen werden.

Nach einer kurzen Skizze der dringlichsten Herausforderungen werden Lösungen vorgestellt. Diese könnten nicht nur für asiatische und afrikanische Megastädte, sondern auch für europäische Großstädte relevant sein. Inwiefern unser individuell hoher Flächenanspruch dabei künftig aufrecht zu halten sein wird, muss sich zeigen. Ziel ist es, positive Aspekte der Stadt, wie kurze Wege, Kulturvielfalt oder gute Kommunikationsmöglichkeiten zu erhalten und gleichzeitig neue Gestaltungsmöglichkeiten zu suchen. In der Morgenstadt sollen Stadtviertel Strom und Wärme selbst erzeugen und Elektroautos auch als Stromspeicher dienen. Menschen wohnen in intelligenten Häusern, die für umweltverträglichen Komfort und Sicherheit sorgen. Die einzelnen Kapitel des Buches widmen sich u.a. den Themen Energie, Wasser, Bauen und Wohnen, Ernährung und Gesundheit, Mobilität, Sicherheit, Arbeitswelt und Kommunikation.

Sicherheit und Kunstlicht

Vorhandene städtische Strukturen an neue Anforderungen anzupassen dürfte insgesamt schwieriger werden, als neue Superstädte, wie die Null-Emissionsstadt Masdar City am persischen Golf aus dem Sand zu stampfen. Das Buch konzentriert sich dabei auf die Möglichkeiten einer ökologisch verträglichen, nachhaltigen Urbanisierung, wobei die Tätigkeiten des Fraunhofer Instituts aus verständlichen Gründen im Vordergrund stehen. Bereits Realität ist das 2012 eröffnete Zentrum für virtuelles Engineering des Fraunhofer IAO in Stuttgart. Das futuristische Gebäude ist mit zukunftsweisenden Laboren und Bürowelten ausgestattet und soll als Plattform für die Erforschung und Entwicklung zukunftsträchtiger Technologien dienen.

Das Buch Morgenstadt beschäftigt sich vor allem mit technologischen Aspekten. Die Frage, wie diese für breite Bevölkerungsschichten umsetzbar und bezahlbar sein können, wie die Städte auch für Kinder und alte Menschen ein angemessenes Umfeld bieten können und wie die Errungenschaften des urbanen Menschen mit anderen globalen Anforderungen verbunden werden können, wird natürlich auch andere Disziplinen und viele weitere helle Köpfe beschäftigen müssen. Ob Sicherheit durch Biometrie, »Smart homes« und Kunstlicht, das wie Tageslicht wirkt, wirklich zentral sind für eine lebenswerte Umgebung, bleibt zu diskutieren. Oder anders: Wer ist das »wir« in Wie wir morgen leben (wollen)?

| TOM ASAM

Titelangaben
Hans-Jörg Bullinger/ Brigitte Röthlein: Morgenstadt. Wie wir morgen leben
Hanser, 286 Seiten, 24,90 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Keine Rosen, nur Gestrüpp

Nächster Artikel

Im Kino heulen wir manchmal

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Feinde im Datastream

Gesellschaft | Roberto Simanowski: Data Love 2013 stellte der amerikanische Whistleblower und Ex-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden unter Mitwirkung des Journalisten und Anwalts Glenn Greenwald, der US-amerikanischen Dokumentarfilmerin Laura Poitrasi (›Citizenfour‹ jetzt in den deutschen Kinos!) und kritischer Medien der Weltöffentlichkeit klar, dass britische und US-Geheimdienste Mails, SMS, Skype- und Handygespräche im Megastil sammeln, dass technophile Gesellschaften enthemmt ausgespäht werden. Obgleich sich diese ausufernde Schnüffelpraxis als Außenpolitik-, Industrie- und Bankenspionage und angeblicher Kampf gegen den Terrorismus »getarnt« vollzieht, wird everyone everywhere zu everywhat bespäht. Von GISLIND NABAKOWSKI

Das hegemoniale Projekt

Gesellschaft | Diana Johnstone: Die Chaos-Königin Es ist schwierig mit dieser Kandidatin. Nein, sie stand nicht bei ›Madame Tussaud‹ und wurde für die Dauer des Wahlkampfs mit Option auf eine erste Amtsperiode geleast. Wie auch immer – man weiß nicht, was drinsteckt. Man weiß jedenfalls, dass sie von Bernie Sanders‘ jugendlicher Zielgruppe konsequent abgelehnt wird und weiten Kreisen der Wählerschaft verhasst ist. Wer ist diese Frau? Gibt es sie? Von WOLF SENFF

Ein denkwürdiger Prozess

Sachbuch | Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess Im Dezember 2013 jährt sich der Beginn des »Auschwitz-Prozesses« zum 50. Mal. Im Vorfeld dieses bedeutenden Jahrestages erscheint im Siedler-Verlag eine historisch-juristische Aufarbeitung dieses Weltereignisses mit dem schlichten Titel Der Auschwitz-Prozess – Völkermord vor Gericht. Gelesen von WOLFGANG HAAN.

Nicht einfach

Gesellschaft | Thomas Medicus: Nach der Idylle Eine Deutschlandreise, und nicht die erste. Deutschlandreisen haben eine gute literarische Tradition. Thomas Medicus fährt mit der Bundesbahn von Süd nach Nord und von Ost nach West, er macht häufig Station, er möchte einen Einblick vom Zustand des Landes gewinnen bzw. besser: ihm den Puls fühlen. Ob ihm das gelingt, fragt WOLF SENFF

Umdenken

Gesellschaft: Jürgen Todenhöfer: Die große Heuchelei Der Klimakollaps ruft zu fundamentalen Veränderungen auf, und das betrifft selbstverständlich unser eigenes Bild von den Ereignissen – wir müssen unsere Verantwortung für den Lauf der Dinge erkennen, die Fakten neu sortieren und gegebenenfalls die Geschichte neu schreiben. Von WOLF SENFF