Gesellschaft | Matthias Bröckers, Paul Schreyer: Wir sind die Guten
Wenn sogar die ›Hamburger Morgenpost‹ sich nahtlos unter die Putin-Hassprediger fügt, bleibt keine andere Wahl, als nach einem informativen Buch zu greifen. Lesen Sie das erste Kapitel, und Sie werden sich wundern über jene nüchterne Logik, die dem Boulevard nicht der Rede wert ist, die in ›seriösen‹ Medien nicht zur Sprache kommt, die jedoch unverzichtbar ist, um die Situation jenseits von Rausch und Stammtisch einzuschätzen. Von WOLF SENFF
Unter Boris Jelzin waren in Russland »unter der Flagge von Freiheit und Menschenrechten […] Gier und Gewalt eingezogen«, und »selbst die italienische Cosa Nostra […] zog sich gleich wieder zurück: Die Russenmafia war den wahrlich nicht für Skrupel bekannten Italo-Mafiosi zu skrupellos«, und letztlich sei unter den Oligarchen alles darauf hinausgelaufen, dass die immensen Ressourcen des Landes von internationalen Konzernen geplündert wurden. Das ist die Vorgeschichte, von der man wissen sollte.
Ein gespaltenes Land
Sobald Putin den ungezügelten Aktivitäten Grenzen setzte und den Reichtum wieder für das eigene Land sicherte, habe der Westen das Putin-Bashing eingeleitet. Auch in der Ukraine »geht es nicht um Freiheit oder Menschenrechte, sondern um Macht und Stellungskriege auf dem geopolitischen Schachbrett«, wo die USA Führung beanspruchen, »Full Spectrum Dominance«.
Die Ukraine ist ein zutiefst gespaltenes Land, ablesbar sei dies zum Beispiel an Stepan Bandera, der im westlichen Teil des Landes als Held geschätzt, im östlichen als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher angesehen werde, ablesbar auch an der Sprache, einem Dialekt des Russischen, der im westlichen Teil als eigene Sprache eingestuft werde, was eine Geste nationalistischer Abgrenzung gegen den östlichen Nachbarn sei, ein Indiz für die hohen Werte auf der ukrainischen Hysterieskala.
Krokodilstränen
Geopolitisch gehe es, Bröckers und Schreyer berufen sich auf Zbigniew Brzezinski, den Berater diverser USA-Präsidenten, um »Träume amerikanischer Hegemonie auf dem eurasischen Schachbrett« bzw. mit den Worten des gegenwärtigen USA-Präsidenten in einer Rede vom Mai 2014: »Amerika muss auf globaler Ebene stets die Führungsrolle übernehmen«. Da dürfte es sich tatsächlich um Träume handeln. Man fragt sich, wie jemand, der durch aggressive Kriegführung seinen Ruf dermaßen ruiniert hat, vor der Weltöffentlichkeit überhaupt noch diese Töne riskieren kann.
Weshalb eigentlich gibt es in der gesamten deutschen Medienlandschaft niemanden, der sich mit der Problematik dieses Größenwahns auseinandersetzt? Stattdessen vergießt die FAZ neuerdings Krokodilstränen, weil sie sich als »Mainstream« diffamiert fühlt, oh je, wie tief ist die Provinz, in der wir leben?
Herrschaften von Rang und Namen
Bröckers und Schreyer beschreiben die Energieversorgung als zentrales Feld der weltweit geführten Auseinandersetzung, und tatsächlich erklären sich die Konfliktherde bzw. die Invasionen der USA, der ›Kreuzzug gegen den Terror‹, ganz anders, wenn man den projektierten Verlauf der Pipelines kennt: Blue Stream von der russischen Schwarzmeerküste über die Türkei nach Syrien, eine von Konzernen der USA geplante Leitung TAPI von Turkmenistan über Afghanistan, Pakistan, Indien zum Indischen Ozean, aus der Indien ausgestiegen ist, seitdem es eine aus dem Iran über Pakistan nach Indien führende Pipeline favorisiert, die jedoch die USA verhindern wollen.
In der Ukraine geht es um die Versorgungslinie, die vom Kaspischen Meer über Ukraine, Ungarn, Österreich nach Deutschland führt. Die USA mischen sich in europäische Angelegenheiten ein, sie verfolgen in der Ukraine ihre eigenen politischen Interessen, wir werden an das entlarvende ›Fuck the EU‹ erinnert und über den »Atlantic Council« informiert, einen jener im Hintergrund operierenden Zirkel, in denen Herrschaften von Rang und Namen – Josef Ackermann, Zbigniew Brzezinski, Rupert Murdoch etc. – die globalen Linien erörtern, finanziert mit Milliardenbeträgen aus Zuwendungen großer Konzerne, von Stiftungen, aber auch direkt von der NATO und der Europäischen Kommission. Dieses seien die Kreise, in denen Mainstream begründet werde, die deutsche Verteidigungsministerin gab anlässlich ihres Antrittsbesuchs in Washington im Juni 2014 ihr Debut vor den Herren des »Atlantic Council«.
Journalistischer Filz
Diese kostspielig organisierte Beeinflussung der Öffentlichkeit werde verständlich vor dem Hintergrund, dass neuesten Umfragen zufolge 52 Prozent der amerikanischen Bevölkerung der Meinung seien, die USA sollten sich »um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und andere Länder ihren Weg allein finden lassen«.
Auch deswegen sei die einseitige Informationspolitik deutscher Medien erstaunlich, und tatsächlich gab es in den Onlineforen Kritik und massiven Ärger wegen der einseitigen Berichte über Russland und die Ukraine, und wir werden erinnert an das juristische Unterlassungsbegehren von Journalisten der ›Zeit‹ gegen Äußerungen in der ZDF-Satiresendung ›Die Anstalt‹, in der auf äußerst pikante, hochnotpeinliche persönliche Verflechtungen dieser Journalisten hingewiesen wurde.
Verrutschte Standards in der ›Tagesschau‹
Das Auftreten von Politikern wie etwa Gauck, von der Leyen und Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar, ihr Verlangen nach entschiedenerem Auftreten Deutschlands mit weiteren militärischen Auslandseinsätzen werde von 61 Prozent der Deutschen abgelehnt, und »das beispiellose Putin-Bashing sowie die weitgehende Verleugnung einer aggressiven westlichen Geopolitik gegenüber Russland« hätten »erstmals zu einer deutlich sichtbaren Spaltung zwischen Medien und großen Teilen des Publikums« geführt.
Der Fernsehzuschauer erweise sich als widerständig, der englischsprachige Nachrichtensender Russia Today mit seiner Onlinepräsenz auf Youtube sei international längst die populärste Nachrichtenquelle geworden. Die journalistischen Standards seien verrutscht, wenn zum Beispiel die ARD-Korrespondentin Golineh Atai, die in der ›Tagesschau‹ täglich aus der Ukraine berichte, bereitwillig die Sprachregelung der Kiewer Regierung übernehme und bei deren Einsätzen gegen die Bevölkerung der östlichen Regionen von einer »Antiterroroperation« spreche.
Europa als Zossen vor dem Karren der USA?
Im Falle des ungeklärten MH17-Absturzes gab es »statt selbstkritischer oder zumindest nachdenklicher Berichte […] vor allem laut bellende Empörung über Putin« und darüber hinaus »ein dröhnendes Schweigen«. Das »Gefasel der Großmedien von westlicher Wertegemeinschaft hier und (pro)russischen Aggressoren da« sei unerträglich. Klare Worte.
Letztlich drohe Europa vor einen Karren gespannt zu werden »von einem imperialen Moloch, dem es um nichts anderes gehe, als seine Macht bis in den letzten Winkel der Erde zu verbreiten«. Bröckers und Schreyer sehen Europa unter drängendem Handlungszwang, zumal »die BRICS-Staaten schon ihre eigenen Rating-Agenturen gründen, um von den Manipulateuren der Wall Street unabhängig zu werden« und demnächst »mehr als die halbe Welt ihre Energielieferung statt in Petro-Dollar in Gas-Yuan bezahlen kann«. Die hiesigen Medien hätten die Aufgabe, über die »machtpolitische Lage auf dem Schachbrett der Geopolitik« vorurteilsfrei zu informieren. Das finde jedoch nicht statt.
Ein informatives, nüchternes, mutiges Buch, das bereits großen Erfolg beim Publikum hat und nach zwei Monaten nun in der zweiten Auflage ausgeliefert wird. Unbedingt zur Lektüre empfohlen!
Titelangaben
Matthias Bröckers, Paul Schreyer: Wir sind die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren
Frankfurt: Westend 2014
207 Seiten. 16,99 Euro
Bekanntlich ist aber das Wechseln der Fronten sehr gefährlich. Man sollte also nichts überstürzen.