Ein unbekanntes Land

Gesellschaft | Fritz Edlinger / Tyma Kraitt (Hg.): Syrien

Der Arabische Frühling 2011 brachte Ländern wie Tunesien und Ägypten nach jahrzehntelanger Stagnation wenigstens eine begrenzte Demokratisierung. Doch bei den Nachbarn sieht die Bilanz oft ganz anders aus. In Syrien haben sich hoffnungsvolle Ansätze mittlerweile in einen blutigen Alptraum verwandelt. Der Sammelband Syrien, den Fritz Edlinger, Generalsekretär der Gesellschaft für Österreich-Arabische Beziehungen, mit der aus dem Irak stammenden Journalistin Tyma Kraitt herausgegeben hat, will zeigen, warum. Von PETER BLASTENBREI
Syrien
Mitherausgeberin Kraitt liefert in zwei umfassenden und kompetenten Artikeln die politische Geschichte Syriens seit der Unabhängigkeit. Die vielbeschworene Herrschaft der Alawiten manifestiert sich tatsächlich als dominanter Interessenausgleich dieser Sekte mit den Sunniten von Damaskus, in den auch andere religiöse Gruppen einbezogen sind. Die Opposition hatte in der ersten Krise des Assad-Regimes 1980/83 bereits die Zusammensetzung angenommen, die sie heute wieder aufweist. Explosiv wurde die Situation aber erst mit der Entscheidung Baschar al-Assads, politische Reformen hinter den neoliberalen Wirtschaftsumbau zurückzustellen.

Die bekannten Krisenerscheinungen wie Landspekulation, Korruption, Preisexplosion, Firmenpleiten, Arbeitslosigkeit, Verfall von Gesundheits- und Bildungswesen traten schnell ein und führten der zunehmend frustrierten politischen Opposition das gewaltbereite Fußvolk zu. Anders als seinem Vater, dem »Realpolitiker«, konnten Assad junior auch keine kompensatorischen Erfolge in der Außenpolitik mehr glücken, seitdem die USA ab 2001/03 ihre neue Rolle in Nahost spielten. Karin Leukefeld ergänzt diese Analyse mit wertvollen Momentaufnahmen aus Damaskus zwischen April 2011 und August 2012. Geradezu tragisch ist die Degradierung der inneren, auf eine Verhandlungslösung zielenden Opposition zugunsten des ganz auf Gewalt setzenden Syrischen Nationalrats.

Der Kasseler Friedensforscher Werner Ruf gibt einen Überblick über die Rolle internationaler Institutionen im syrischen Bürgerkrieg (UNO, Arabische Liga, Golf-Kooperationsrat). Er konstatiert dabei eine stillschweigende Zusammenarbeit des Westens, besonders der USA, mit den Saudis und den Golfstaaten, auch auf die Gefahr eines in Zukunft islamistischen Syrien hin. Der Jurist und frühere Bundestagsabgeordnete Norman Paech erläutert die komplexen völkerrechtlichen Aspekte der Aufstandsbekämpfung und möglicher Interventionsszenarien.

Parteinahme – für wen?

Drei weitere Aufsätze widmen sich kompetent Einzelproblemen der Außenpolitik. Stefan Brocza beschreibt die (nahezu inexistente) EU-Syrienpolitik und gibt einen Abriss der europäischen Sanktionsschritte. Karin Kulows Beitrag zur sowjetischen und russischen Syrienpolitik ist deshalb so aufschlussreich, weil er die US-Nahostpolitik mit einbezieht, ohne die vieles unverständlich bliebe. Patrick Seale konstatiert das Scheitern der türkischen Außenpolitik, ohne freilich eine einleuchtende Begründung für die Wendung der Türken gegen die Assad-Regierung zu finden.

Carsten Wieland untersucht die Baath-Ideologie in Syrien und im Irak, sagt dabei allerdings wenig über die Umsetzung anderer, vor allem innenpolitischer Baath-Ziele neben dem seit langen nur noch deklamatorisch gebrauchten Panarabismus. Liselotte Abids Artikel über das bunte Mosaik der Religionen und Konfession in Syrien leidet unter seinem Streben nach enzyklopädischer Vollständigkeit. Konfession und Nation sind nicht klar unterschieden, demografisches Gewicht und politische Stellung der einzelnen Gruppen und Grüppchen lassen sich kaum ausmachen (Zahlen zumindest zu den unierten Christen finden sich problemlos im jährlich erscheinenden Annuario pontificio).

Zwei Beiträge befassen sich mit der medialen Verarbeitung der Geschehnisse. Der Artikel zu den Internet-Medien von Rüdiger Lohlker und Anna Telič beschränkt sich auf ein Panorama der zahlreichen Webseiten und ihre politische Zuordnung. Kurt Gritsch ist dagegen eine tiefgehende Inhaltsanalyse von FAZ, Zeit und ARD-Tagesschau gelungen. Beide Zeitungen, in geringerem Umfang auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen, haben sich frühzeitig auf eine massive Parteinahme für die Opposition festgelegt, bis hin zur Vernachlässigung elementarer journalistischer Regeln wie der Darstellung beider Seiten. Al-Jazeera, lange Zeit Muster eines ausgewogenen und fairen arabischen Journalismus, folgt heute ganz der Politik des katarischen Königshauses mit vergleichbaren Folgen.

Schönheitsfehler

Wenig überzeugend wirkt leider Karin Kneissls Artikel zum Libanon, unkonzentriert mit thematischen und chronologischen Brüchen. Echte Fehler verschlimmern die Sache noch. So waren es keineswegs die libanesischen Sunniten, die immer wieder die Rückkehr zu Syrien forderten (sondern Orthodoxe und Griechisch-Unierte). Im Gegenteil war die Allianz zwischen Maroniten und Sunniten die politische Basis des unabhängigen Libanon 1943-1975. Auch die Ziele der syrischen Libanonpolitik seit dem Einmarsch 1976 bleiben unklar. Annexion des kleinen Nachbarn oder seine ungeteilte Erhaltung? Beides geht nicht zusammen.

Insgesamt also ein Buch von großer Aktualität (Berichtszeitraum bis Ende 2012!) und beachtlicher Qualität, wenn auch mit Schönheitsfehlern wie dem Ungleichgewicht der Beiträge. Sicher keine gute Idee war die Entscheidung der Herausgeber, auf einen Aufsatz zum Thema Israel zu verzichten, vor allem weil sich alle Autoren geradezu peinlich bemühen, den aggressiven Nachbarn im Südwesten zu ignorieren. Damit geht dem Buch aber eine ganze Dimension verloren, die sich mit den Begriffen Libanonpolitik, Verhältnis zum Westen und Faktor Sicherheit nur unzureichend umschreiben lässt.

Anzumerken bleibt noch, dass selbst in einem Buch von Spezialisten, wie dem vorliegenden, die syrische Opposition kaum wirklich Konturen gewinnt. Selbst die Bedeutung radikaler Islamisten innerhalb der Anti-Assad-Bewegung schwankt je nach Betrachter.

| PETER BLASTENBREI

Titelangaben
Fritz Edlinger / Tyma Kraitt (Hg.): Syrien. Hintergründe, Analysen, Berichte
Wien: Promedia Verlag 2013
238 Seiten. 17,90 Euro

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