Der alltägliche Kampf – nicht ausgetragen von J. Corrigan Jr.

Comic | Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt

Endlich auf Deutsch erscheinen, bereits im Vorfeld ein instant classic: Chris Wares bahnbrechende Graphic Novel Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt. Von CHRISTIAN NEUBERT

Chris Ware: Jimmy Corrigan
Schon vor Jahren wurde in einschlägigen Comicforen über eine hoffentlich in Bälde bevorstehende deutschsprachige Ausgabe von Chris Wares Jimmy Corrigan diskutiert. Voll freudiger Erwartung blickte man einem Jahrhundertwerk entgegen, denn um nichts Geringeres handelt es sich bei dieser Graphic Novel. »Ein Meilenstein, der zeigt, wozu Comics imstande sind«, urteilte Maus-Schöpfer und Pulitzer-Preisträger Art Spiegelman beim Erscheinen der US-Ausgabe von Wares autobiographisch gefärbtem Bilderepos im Jahr 2000. Nun gibt es das Buch endlich auf Deutsch – in aufwendiger Edition inklusive gefaltetem Umschlag, der eher Poster als Schutzhülle ist, und mit einem am Original orientierten Handlettering.

Allein schon das Sujet des Bandes ist bemerkenswert. Sein namensgebender Protagonist ist das Gegenteil eines typischen Comic-Helden. Mehr noch: Er ist, unabhängig des Mediums, einer der größten Anti-Helden überhaupt. Seine episodenhaft abgehandelte Lebensgeschichte setzt sich aus niederschmetternden Kindheitserfahrungen und alltagsbestimmenden Nichtigkeiten zusammen, die ein Stück Leben formen, das banaler, bemitleidenswerter und abstoßender kaum sein könnte.

Vom Leben gezeichnet

Die Existenz dieses Büroangestellten, der schon als Kind greisenhafte Züge trägt und noch als Enddreißiger der Infantilität nicht entkommt, wird als einzige Katastrophe inszeniert. Unfähig, sich von der Mutter abzunabeln und außerstande, sich mitzuteilen oder gar Initiative zu ergreifen, ist Corrigans Dasein ein Spielball der größeren und kleineren Mächte, die ihn umgeben. Seine kleine Welt hat ihn gänzlich im Griff. Man kann diese Figur gut mit Herrn R. vergleichen, der traurigen Gestalt von Fassbinders und Fenglers Regiekooperation Warum läuft Herr R. Amok? Ein gewaltvoller Exzess wird Jimmy Corrigan jedoch nicht vergönnt. Ihm bleiben lediglich Ausflüge in Tagträumereien.

Einen Ausbruch aus der tristen Alltagsmühle könnte der Versuch einer Kontaktaufnahme seitens seines Vaters, den er nie kennengelernt hat, sein. Immerhin ist eine Begegnung mit diesem an die Notwendigkeit gebunden, etwas von sich preiszugeben und Empathie zu entwickeln. Doch für Corrigan stellen diese Anforderungen unüberwindbare Hürden dar – mal abgesehen davon, dass eben auch sein Vater, nun ja, ein Corrigan ist.

Dass die Schilderung dieser Außenseiterexistenz die 384 Comicseiten tragen kann, liegt zum einen an der literarischen Wucht, die Ware entfesselt. Er setzt Corrigans Schicksal mit dem seines Großvaters in Bezug, wodurch sich der Comic als episch angelegte Genealogie der Bitterkeit liest. Daneben ist es sein singulärer Zeichenstil. Ware schafft expressive, scharf umrissene Bilder zwischen der Ligne Claire eines Hergé, frühem Zeitungscomic a lá Windsor McCay und zeitgenössischer Gebrauchsgraphik und bettet diese in ein streng geometrisches Seitenlayout, das ein paralleles Kommunizieren unterschiedlicher Erzählstränge zulässt. Selbst überbordende Handlungsabschnitte wirken innerhalb dieser Bildkompositionen aufgeräumt und übersichtlich – und die Welten, die er dadurch schafft, zugleich wahrhaftig und künstlich.

Kunst und Künstlichkeit

Diese Symbiose aus Ausdruck und Sterilität hat weit über die Comicszene hinaus Furore gemacht; vermutlich kann man die Tragweite von Wares‘ Stil gar nicht hoch genug einordnen. »Wer Chris Ware kannte, gehörte während meines Illustrations-Studiums einem Verein der Wissenden an. Jimmy Corrigan war für uns ein bisschen wie die Bibel«, erklärt dazu der deutsche Comic-Künstler Simon Schwartz.

Bei Reprodukt ist es Usus, den Output eines Künstlers nach und nach zu erschließen. Hoffentlich gelingt dies dem Verlag auch bei Ware. Dann darf man sich z.B. auf Building Stories freuen, seinem neuesten Streich. Bei diesem Werk handelt es sich um ein schier unglaubliches Konglomerat an narrativen Design-Objekten, das einen, um es komplett zu erschließen, locker für mehrere Wochen in Beschlag nimmt – und das den Comic-Begriff abermals um etliche Facetten erweitert.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Jimmy Corrigan – Der klügste Junge der Welt (Jimmy Corrigan – The smartest kid on earth).
Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders und Tina Hohl.
Berlin: Reprodukt 2013
384 Seiten. 39,00 Euro

Reinschauen
Chris Ware bei Drawn and Quarterly
Chris Ware bei Reprodukt

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

H für Husarenstück

Nächster Artikel

»No matter where I am, I´m always longing for abroad.« – Ein Tag mit Max Paul Maria

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Flucht in ein freies Leben

Comic | Pénélope Bagieu: Unerschrocken Bd. 2 Mit Wut und Kampfesgeist werden Frauen von der Hausfrau zur Heldin. Pénélope Bagieu hat im zweiten Band ihrer Graphic Novel ›Unerschrocken‹ wieder 15 von ihnen porträtiert. Spannende und humorvoll erzählte Lebensgeschichten, zwischen Tragik und Mut, sind dabei entstanden. Von BIRTE FÖRSTER

» … Tagarbeiter, kein Nachtarbeiter«

Comic | Interview mit Flix Der Berliner Comic-Künstler Flix konnte den frankobelgischen Serienklassiker ›Spirou‹ mit einem Spezialband bereichern. CHRISTIAN NEUBERT hat mit Flix über diese Sensation und seine Arbeit als Comic-Zeichner gesprochen. Der Band selbst, ›Spirou in Berlin‹, erscheint am 31.7. bei Carlsen.

Straßenkinderkram

Comic | Max de Radiguès: Bastard Max de Radiguès erzählt in seinem Comic ›Bastard‹ von einem ungewöhnlichen Gangster-Pärchen: Eugene ist ein acht Jahre alter Bub, die junge May ist seine Mutter. Den Kofferraum voller Geld, sind sie auf der Flucht durch die US-Provinz, vor Cops und Komplizen. CHRISTIAN NEUBERT hat auf ihrem Beifahrersitz Platz genommen.

Vom Vater, dem Sohn und der Literatur

Comic | Kafka als »Superheld« in Comic-Neuerscheinungen

Im Kafka-Jahr erscheinen auch einige Kafka-Comics, die sehr unterschiedlich von diesem Jahrhundertautor erzählten. Von GEORG PATZER

Von menschlichen Bären und affigen Menschen

Comic | Stefano Ricci: Die Geschichte des Bären Im Sommer 2006 beschäftigte ein Braunbär, den die Medien auf den Namen Bruno tauften, Mittelosteuropa. Denn der aus einem italienischen Nationalpark entflohene Bär zog durch die Länder, bis er über die österreichisch-deutsche Grenze nach Bayern kam, wo der vermeintliche Problembär, der einige Schafe gerissen hatte, schließlich vom damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) zum Abschuss freigegeben wurde. Die Empörung war damals groß, Tierschützer mokierten sich über die Tötung des Tieres. Über Bruno hat jetzt Stefano Ricci einen sehr alternativen, schwierigen und wunderschönen Comic verfasst: ›Die Geschichte des Bären‹. PHILIP J. DINGELDEY hat sich