Das Mädchen und die Seeräuber

Comic | Vehlmann/Jason: Die Insel der 100.000 Toten

Es wird viel gefoltert und noch mehr gestorben auf der Insel der 100.000 Toten, soviel kann man sagen. Und tatsächlich ist eine Schatzkarte der Anlass dafür. Ansonsten hat dieses Album mit anderen Piratencomics relativ wenig zu tun. Stattdessen entpuppt es sich als Kleinod des verqueren, schwarzen Humors. BORIS KUNZ hat mit knapper Not überlebt.

Angenommen, man wäre der Leiter eines Internats für Folterknechte, Henker und Scharfrichter, und die Zeiten würden zulassen, dass das Internat gut besucht ist: Man hätte mit Sicherheit mit einigen Problemen zu kämpfen. Nicht nur mit renitenten oder unfähigen Zöglingen, sondern vor allen Dingen mit unzureichendem Nachschub an Lehrmaterial. Wie sollen die Schüler denn das Erzwingen von Geständnissen oder das fachgerechte Erwürgen lernen, wenn nicht am lebenden Objekt? Aber woher nehmen? Da müsste man sich wohl etwas einfallen lassen …

Das Comicalbum Die Insel der 100.000 Toten stammt von kreativen Geistern, die nicht nur Problemstellungen dieser Art ersonnen haben, sondern auch die pragmatischen Lösungen dazu: mit fingierten Schatzkarten lockt das Henkerinternat Piraten und andere Schatzsucher auf eine Insel, wo ihnen maskierte Pennäler in praktisch orientierten Unterrichtsstunden den Garaus machen. Unter anderem ist auch der Vater der kleinen Gweny auf solch eine Schatzkarte hereingefallen. Gweny ist nun entschlossen, die Insel zu finden und ihren Vater von dort zurückzuholen. Damit setzt das Mädchen eine Kette blutiger Ereignisse in Gang.

»Hier gibt’s bestimmt Haie …« – »Für ’nen Pirat scheinst Du mir ein ziemlicher Schlappschwanz zu sein!«

Obschon nach einem verschrobenen Szenario des aktuellen Spirou-Autoren Fabien Vehlmann (auch bekannt für die Reihe Allein) entstanden, fügt sich Die Insel der 100.000 Toten ziemlich gut in das bisher bei Reprodukt erschienene Werk des norwegischen Zeichners Jason ein. Der hatte schon in Ich habe Adolf Hitler getötet konsequent eine Welt beschrieben, in der Auftragsmorde eine legale Sache sind. Da ist es kein großer Schritt auf eine Insel, auf der Piraten, Folterknecht-Azubis und ein paar verhinderte Schatzsucher von einem entschlossenen und knallharten kleinen Mädchen aufgemischt werden. Wie immer bevölkert Jason seine Bilderwelt mit Tiergesichtern, die mit ihren leeren, pupillenlosen Augen recht stoisch in die Welt hinaus blicken und mit einem Pragmatismus und einer Unbekümmertheit zu Werke gehen, die in krassem Widerspruch zu den Morden und Verstümmelungen stehen, mit denen sie sich herumschlagen müssen.

Man kann den trockenen, eigenwilligen Stil des Albums kaum beschreiben, ohne Vergleiche zu Lewis Trondheim heranzuziehen. Sowohl bei dem lakonischen Humor als auch bei den bewusst sehr einfach gehaltenen, aber sehr effizient eingesetzten Zeichnungen ist die Schnittmenge zu Comics wie Herrn Hases haarsträubende Abenteuer oder Donjon groß. Allerdings ist Vehlmanns Erzählweise sehr viel konzentrierter als die ausufernden Schilderungen Trondheims. Die Geschichte ist von Anfang bis Ende als überschaubares, bösartiges Kammerspiel sauber durchkonzipiert und kommt trotz diverser Wendungen und Überraschungen recht schnell zur Sache.

»Schon blöd, vom Schafott zu fallen« – »Kann doch jedem mal passieren!«

Jason illustriert die Geschichte kongenial und mit viel Gespür für Situationskomik. Die reduzierte Mimik seiner Figuren unterstreicht die Absurdität der Dialoge. Anders als im Donjon bleibt das viele Blut, das in der Geschichte fließt, in seinen Zeichnungen komplett unsichtbar. Jason zelebriert keinen Splatter, sondern vornehme Zurückhaltung und lässt damit vor allem die irrwitzigen Wendungen der Geschichte in den Vordergrund treten. Das alles sorgt für eine rasche, kurzweilige und lustige Lektüre.

So hat man das Album dann auch schneller durchgelesen, als man eigentlich möchte. Dafür bleibt einem so manche Gemeinheit der Erzählung aber noch lange im Gedächtnis.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Fabien Vehlmann (Szenario), Jason (Zeichnungen): Die Insel der 100.000 Toten
(L`île des cent mille morts) Aus dem Französischen von Mireille Onon
Berlin: Reprodukt 2013
56 Seiten, 15,00 €

Reinschauen
Informationen über Jason
Informationen über Vehlmann

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Skandal, Skandal – Der »Heilige Deix«

Nächster Artikel

Portrait of the President as a young Man

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Von der Natur. Und der des Menschen.

Comic | Peggy Adam: Gröcha   Peggy Adam reflektiert in ›Gröcha‹, ihrem zweiten Comic-Langwerk, über das Verhältnis zwischen Mensch und Natur – mit ernüchterndem Ergebnis, mal abgesehen von der künstlerischen Leistung. Entsprechend genießt CHRISTIAN NEUBERT das Werk, solange es noch geht.

Kreuzwortkrimicomicrätselfun?

Comic | Paolo Bacilieri: Fun Paolo Bacilieris Comic ›Fun‹ spürt der Geschichte des Kreuzworträtsels nach, findet Bezüge zu seinem eigenen Medium und möchte parallel zu seinem waagrecht-schrägen Themenfüllhorn einen Mord aufklären. Wie bei einem Kreuzworträtsel läuft in dem Comic dies alles in einem Neben-und Untereinander. Läuft man da bis zum Ende gerne mit? Reicht der Spaß an »Fun« über seine Lektüre hinaus? CHRISTIAN NEUBERT verrät es.

Von menschlichen Bären und affigen Menschen

Comic | Stefano Ricci: Die Geschichte des Bären Im Sommer 2006 beschäftigte ein Braunbär, den die Medien auf den Namen Bruno tauften, Mittelosteuropa. Denn der aus einem italienischen Nationalpark entflohene Bär zog durch die Länder, bis er über die österreichisch-deutsche Grenze nach Bayern kam, wo der vermeintliche Problembär, der einige Schafe gerissen hatte, schließlich vom damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) zum Abschuss freigegeben wurde. Die Empörung war damals groß, Tierschützer mokierten sich über die Tötung des Tieres. Über Bruno hat jetzt Stefano Ricci einen sehr alternativen, schwierigen und wunderschönen Comic verfasst: ›Die Geschichte des Bären‹. PHILIP J. DINGELDEY hat sich

Ein kleines Großstadtabenteuer

Comic | Michael Cho: Shoplifter. Mein fast perfektes Leben. ›Shoplifter‹ heißt die deutsche Erstveröffentlichung des südkoreanisch-kanadischen Zeichners und Erzählers Michael Cho. Für ANDREAS ALT eine gut gemachte, vielversprechende Stilübung.

Verfluchte Liebe: Kino, Film

Comic | Charles Berberian: Cinerama / Blutch: Ein letztes Wort zum Kino Comicschaffende und das Medium Film – im Reprodukt Verlag erschienen jüngst zwei Bände, deren Urheber jeweils ureigene Blicke auf das Kino werfen: Charles Berberians ›Cinerama‹ und Blutchs ›Ein Letztes Wort Zum Kino‹. CHRISTIAN NEUBERT hat sich das Comic gewordene Double Feature vorgenommen.