Nicht ganz der Papa …

kinderbuch | Xavier-Laurent Petit: Nicht ganz der Papa

»Die Nase hat er vom Papa, die Augen von der Frau Mama?« Bemerkungen über ihr Aussehen hören Kinder von ihren frühesten Lebenstagen an. Augen, Ohren, Stimme, Haltung, einfach alles von Kopf bis Fuß wird kommentiert. Das Hervorheben von Ähnlichkeiten soll die Bindung an die jeweilige Familie bestärken. Bloß sind Familienähnlichkeiten nicht immer auf den ersten Blick sichtbar. Die vielfach freundlich gemeinte Bemerkung kann sich so unversehens ins Gegenteil verkehren. Statt Sicherheit zu geben, stürzt sie das angesprochene Kind in eine Identitätskrise. Xavier-Laurent Petit hat mit Nicht ganz der Papa einen ungewöhnlichen Blick in ein Kindergemüt gewagt. Von MAGALI HEISSLER

Xavier-Laurent Petit: Nicht ganz der Papa
Yann lebt ganz glücklich mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder Clovis. Dass seine Welt ins Wanken gerät, liegt einzig an einer freundlich gemeinten Bemerkung des Lebensmittelhändlers. Er findet nämlich, dass Yann seinem Vater auffallend ähnlich sieht. Das Problem daran ist, dass der Mann, mit dem Yann in dem verlockend duftenden Laden steht, gar nicht Papa, sondern Onkel Jean ist!

Wie kann es sein, dass er aussieht, wie sein Onkel? Einmal aufmerksam geworden, studiert Yann seine Familie genauestens und verliert prompt den Boden unter den Füßen. Ist er überhaupt der Sohn seiner Eltern?

Verzweiflungstäter

Petit hat ein waches Auge für das Leiden, das plötzliche Unsicherheit in Kindern auslöst. Er erzählt direkt, knapp und stilistisch eher einfach. Die aufkommenden Ängste benennt er ohne Umschweife, sehr junge Leserinnen und Leser können sich umgehend im Beschriebenen wiederfinden. Mitgefühl schwingt immer zwischen den Zeilen. Auch wenn der Ton vielfach humorvoll ist, macht sich Petit niemals lustig über seinen kleinen Helden. Dessen Leid geht unmittelbar ans Herz des Publikums.

Spannung entsteht aus der wachsenden Verzweiflung Yanns, der sich urplötzlich verloren sieht, und der daraus entstandenen Frage, wie er sein Problem löst. Der Kleine greift zu einem verzweifelten Mittel, beschrieben in einer Slapstick-Szene, die Kinder begeistern wird. Der Schrecken, der der Auslöser für die Verzweiflungstat war, ist dabei nie vergessen.

Denkanstöße für jede Generation

Die Schwarz-Weiß-Illustrationen von Gabriel Gay sind großzügig, realistisch und bei aller Schlichtheit voller liebevoll-witziger Details. Besonders Kinder, die eben anfangen, selbst zu lesen, werden mit diesem Buch glücklich werden. Text und Bilder stützen sich gegenseitig. Die Bilder bieten auch einen Ruhepunkt, wenn man vom Lesen eines längeren Abschnitts ein bisschen Erholung braucht, und machen dann wieder Lust zum Weiterlesen. Dass der Autor ein Thema gewählt hat, das so nicht häufig bearbeitet wird – es handelt sich keineswegs um eine Patchwork-Familie oder eine Adoptionsgeschichte – ist ein zusätzliches Plus. Für Kinder anregend ist über die Handlung des Buchs hinaus die Frage nach ihrer Zugehörigkeit zu ihrer Familie und wie diese eigentlich entsteht. Ihr Stammbaum ist größer als nur das Elternpaar und es gehört viel mehr zu dem, was eine Person ausmacht als das Aussehen. Für Erwachsene enthält das kleine Buch einen Hinweis anderer Art. Ihnen tut es ganz gut, darüber nachzudenken, was sie Kindern gegenüber an vermeintlichen Selbstverständlichkeiten äußern. Denkanstöße für alle, also.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Xavier-Laurent Petit: Nicht ganz der Papa
(Ma tête à moi, 2011)
Übersetzt von Anne Brauner
Berlin/Wien: Ueberreuter 2013
Gebunden. 80 Seiten. 8,95 Euro
Kinderbuch ab 8 Jahren

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