Kinderbuch | Paul Biegel: Eine Nachtlegende
Märchen sind das eine, die Wirklichkeit das andere, auch Kinder können das bald gut unterscheiden. Aber worin besteht der Unterschied eigentlich genau? Und hat das eine überhaupt etwas mit dem anderen zu tun? Zwei Märchenfiguren, ein Kobold und eine Elfe, sehen sich unvermutet vor die schrecklichste Frage gestellt, nämlich der, was das Leben ausmacht. Bei dem Versuch, Antworten zu finden, kommen dunkelste Sehnsüchte und Geheimnisse ans Licht, Schrecken, die ihresgleichen suchen. Paul Biegel, eine Ikone der niederländischen Kinderliteratur, erzählt in Eine Nachtlegende ein melancholisch-grausames Märchen, das Erkenntnisse birgt, die die Wirklichkeit erkennen lassen. Von MAGALI HEISSLER
Eine alte Villa, ein Hauskobold, der im alten Puppenhaus auf dem Speicher wohnt, eine sprechende Ratte und eine nuschelnde Kröte begegnen einer gleich auf den ersten Seiten, die Ingredienzen eines klassischen Märchens. Das Bild ändert sich schnell. Ein Sturm weht eine verletzte Fee vors Puppenhaus, und das bringt die gewohnte Ordnung durcheinander. Feen darf man nicht trauen, das wissen alle. Daher will der Kobold sie auch gar nicht hereinlassen. Aber wie soll man einer Fee widerstehen?
Die Fee bedankt sich mit einer Geschichte. Sie ist faszinierend genug, dass der Kobold sie von Anfang bis Ende hören will. Während er lauscht aber verändert sich seine Welt. Die Fee hat etwas ganz Neues und Fremdes mitgebracht. Das kann nur Zauberei sein, sagen Kröte und Ratte, denn ihre gemütliche Dreiergruppe scheint sich aufzulösen. In ihrem Eifer, den alten Zustand wiederherzustellen, richten sie aber Schaden an, der Gefahren nach sich zieht, die größer sind, als sie alle erwartet haben. Die Bewohnerin der Villa, eine alte Frau, wird auf sie aufmerksam. Der Kobold hat auf einmal Probleme zu bewältigen, denen er kaum gewachsen scheint. Doch die schreckliche Geschichte der Fee ist eben nicht nur ein Märchen.
Tiefsitzende Ängste
Biegel erzählt scheinbar leichtfüßig eine Geschichte voller Gemeinheiten, Bosheit, Grausamkeiten und Grauen. Weder Kobold noch Ratte und Kröte sind sympathisch. Sie sind kleinlich, zänkisch, egoistisch. Sie mögen sich nicht einmal, obwohl sie sich regelmäßig zum Kartenspielen treffen. Es gibt aber einen Grund für ihr Verhalten und das ist Angst, vor allem Angst vor Veränderung. Die Abneigung gegen die Elfe entspringt der Angst vor dem Fremden, dann bald dem Neid und der Eifersucht. Der Kobold dagegen wird egoistisch und besitzergreifend. Die Unfähigkeit, sich auf den anderen einzulassen, ist es, die beinahe zur Katastrophe führt.
Die Fee möchte anders sein, über ihre Bestimmung hinausgelangen. Biegel hat sie auf eine Queste besonderer Art geschickt. Die Fee sucht den Tod. Ihm möchte sie begegnen und dafür nimmt sie schreckliches Leiden auf sich. Sie stellt sich ihren Ängsten, aber das bedeutet nicht, dass ihr etwas erspart bleibt.
Hommage an das Märchen
Biegels Kunst ist es, Märchenfiguren mit extremen Gefühlen hoher Komplexität auszustatten und sie damit menschlich agieren zu lassen. Im boshaften und neidischen Gezänk von Ratte und Kröte, dem langsam schwindenden Widerstreben des Kobolds werden sich junge Leserinnen und Leser sofort wiedererkennen. Die Märchenhandlung, die Geschichte der Fee, werden die Gefühle romantisch überhöht. Das Leid, das nicht nur die kleine Fee erdulden muss, wirkt aber immer zurück auf die, die die Geschichte hören, denn sie ist fest mit den Ereignissen in der Villa verwoben.
Das Märchen strotzt zugleich vor Biegels Einfallsreichtum. Feenreiche, Elfenpaläste und der Erlkönig, böse Erlenkerle, Kobolde und drei unheimliche Zauberer sind nur ein Teil dieses berückenden Kosmos’. Berückend ist er nicht wegen seiner unleugbaren Schönheit, sondern wegen des Leids, das man dort erfährt, wenn man sich nicht mehr an die Regeln hält. Das gehört zu den Erkenntnissen, die der Autor übermittelt.
Eine andere ist, dass nur die, die sich nicht an Gegebenem festhalten, überhaupt wichtige Erkenntnisse gewinnen. Und eine dritte, dass Märchenfiguren diejenigen sind, die Menschen das klar machen können. Der andere Blick schärft den eigenen. So ist diese Geschichte auch eine Verbeugung vor der Macht von Märchen.
Die französische Illustratorin Charlotte Dematons hat diese düstere Geschichte voll Schrecken und Leid in Bilder umgesetzt, die das Magische und Unheimliche des Erzählten betonen.
Der Verlag Urachhaus ist nur zu loben, dass er seit einiger Zeit die Geschichten von Paul Biegel wieder auflegt – und zwar in ausnehmend schönen Ausgaben. ›Eine Nachtlegende‹ ist der Höhepunkt der Reihe, ein Höhepunkt von Biegels Schaffen und auch ein Buch, aus dem nicht nur Kinder Einsichten mitnehmen.
| MAGALI HEISSLER
Titelangaben
Paul Biegel: Eine Nachtlegende. (Nachtverhaal, 1992)
Mit Illustrationen von Charlotte Dematons
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Stuttgart: Urachhaus 2013
182 Seiten. 15,90 Euro
Kinderbuch ab 8 Jahren
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