Film | Im Kino: Am Ende der Milchstraße
»Wenn du mal Probleme brauchst, ich bin für dich da«, so lautet gewöhnlich das Motto des Dokumentarfilms. Das ist nicht jedermanns Sache. Man kennt keinen der Schauspieler, weil es keine sind, und die Beschreibung ist wenig reißerisch, halt kein Hollywood. Eigentlich sollte der Streifen Randland heißen, jetzt aber trägt er den Titel Am Ende der Milchstraße. Leopold Grün und Dirk Uhlig haben ein kleines mecklenburgisches 50-Seelen-Dorf besucht, ihnen ist ein berührendes und präzises Zeitbild des Ostens gelungen. Von HARTMUTH MALORNY
Den Regisseur Leopold Grün kennt man, wenn man über den U.S. amerikanischen Sänger und Schauspieler Dean Reed spricht. Grün nannte ihn in seinem Dokumentarfilm den »roten Elvis«. Das war 2007. Nun zog es den gebürtigen Dresdner in den nördlichen Osten, nach Mecklenburg-Vorpommern, ausgestattet mit Kameras und kleiner Crew, um das Landleben und die Schicksale am Rande der Milchstraße einzufangen. Wischershausen ist ein peripheres Dorf ohne Kirche und Kneipe. Zu DDR-Zeiten gab es hier einen kleinen Aufschwung in Form einer LPG-Schweinezucht (Roter Stern). Nach der Wende kamen die Kapitalisten, der Betrieb wurde parzelliert und runtergewirtschaftet. Die holländischen Investoren, die eine Schließung zu verhindern, sowie neue Arbeitsplätze versprachen, waren allerdings auf Schnäppchenjagd, sie saugten den letzten Penny aus der Liegenschaft, und bevor die Insolvenz Tatbestand wurde, karrten sie noch klammheimlich das Vieh ab. Später wurde aus den Stallungen ein großer Milchhof, und zwar so automatisiert, dass er gerade mal fünf Angestellte beschäftigt – zwei davon aus dem Dorf vom Rande gegenüber. »Das Portrait einer immer noch und trotzdem funktionierenden Gemeinschaft. Ein formidabler Film«, meint die Süddeutsche Zeitung.
Ödnis und Idylle
Mangelwirtschaft sorgt oft für Solidarität, Bauer sucht Frau. Maxe hätte gerne die Mauer zurück und findet stattdessen Cordula. Melker Oli, neben Maxe der zweite mit einer festen Anstellung am Milchhof, ist ein hilfsbereiter Familienmensch, er heiratet während der Dreharbeiten. Gabi hat fünf Kinder und keinen Mann. Ihre beiden Töchter sind ausgezogen, während die drei Söhne noch immer und schon wieder bei ihr wohnen. Harry, Angler und Hobby-Philosoph, ist ein Zugereister. Sie alle sind von Existenzängsten geplagt, aber keiner will so richtig woanders hin, denn aus der Not, die bekanntlich erfinderisch macht, verschmolzen sie zu einer Gemeinschaft, zum Beispiel mit einer »eigenen Währung«, dem Tauschhandel. Die Selbstversorgung ist das Maß der Dinge, quasi der rote Faden wie bei der Geburtshilfe in der Scheune: Drei Mann hoch ziehen sie das Kalb mit einem Strick von hinten aus der Kuh. Grün und Uhlig legten großen Wert auf den Blickwinkel, sie betrachteten das Dorfleben gekonnt nach allen Regeln des Dokumentarfilms, sie zeichneten fünf Charaktere, fünf, die zusammenarbeiten, sich helfen, trinken, trauern und feiern. »Wir wollten Bilder setzen, die Tableaus darstellen und dennoch Nähe entwickeln. Große Totalen, Beobachtungen und dann schon mal mit der Handkamera nah ran«, sagt Grün.
Es könnten Ödnis und Idylle wie zu Beginn des letzten Jahrhunderts sein, die das Zelluloid auf die Leinwand projiziert, Photonen, die auf die Netzhaut treffen: Zwei Ponys galoppieren im Hintergrund, die zum Trocknen hängende Wäsche flattert derweil im Wind, während etwas weiter Harry beim Angeln sitzt und Pfeife raucht. Es könnte Harmonie und Illusion sein. Wären da nicht die Desillusion und der Kapitalismus nach der Wende. Und doch ist es ein positiver Film. »Hier hab ich mein Zuhause, warum soll ich da weg?«, sagt Gabi in die Kamera. Ihr ältester Sohn Maik (30) kam zurück, er war als Tischler »draußen« auf Montage, in Israel, Russland und Norwegen, vermittelt von einer Zeitarbeitsfirma, mit Dumpinglöhnen abgespeist. Den zugereisten Harry verschlug es in den 1980er Jahren nach Wischershausen, natürlich wegen einer Frau, die aber zu trinken begann und die gemeinsame Tochter vernachlässigte. Während die anderen einen Job suchen, hat Maxe zu viel davon – oft muss er Zusatzschichten im Milchhof übernehmen, weil es »an Personal mangelt«, und Cordula ist hin und hergerissen zwischen der dörflichen Enge und der weitläufigen Entfaltungsmöglichkeit außerhalb. Oli, 33 Jahre alt und gelernter Tierwirt, hat sich dem Landleben und der Landwirtschaft verschrieben, seine Träume liegen fern ab großer Ziele, er heiratet Freundin Lydia und wäre gerne selbstständiger Kleinbauer.
Landleben zwischen Pragmatismus und Vision
Die Idee hatten Leopold Grün und Dirk Uhlig bereits 2008. Und weil der Geldhahn der Filmförderung nicht dauerhaft sprudelte, sowie die leidige Suche nach anderen Sponsoren, streckten sich die Dreharbeiten drei Jahre lang. Die ersten Aufnahmen begannen im Sommer 2009, dann während des harten Winters 2010, und erst ein Jahr später ging es abermals weiter. Was zum Vorteil hatte, dass sich die Protagonisten an die 4-6-köpfige Crew gewöhnen konnten, denn normalerweise reicht dem Dorfbewohner ein fremdes KFZ-Kennzeichen auf Durchreise, um Misstrauen zu wecken. Wenn man schon unter sich bleiben muss, dann konsequent, und die DDR ist auch noch nicht so lange her. Besonders bei der Tauschwirtschaft wollten sich die Wischershausener nicht gerne in die Karten gucken lassen – aus Angst vor Denunzierung. Das Dorf wurde nicht willkürlich gewählt, die beiden Regisseure haben dort Freunde. Zum Beispiel jene Christine Nebelung, sie erstellte eine Studie über Eigenarbeit in der ländlichen Region: Pragmatismus und Visionen. Leopold Grün und Dirk Uhlig waren sich schnell einig, sie besuchten die Leute, notierten ihre Biographien und schrieben ein Drehbuch. »Wir dachten nach und irgendwann wussten wir, wie wir das filmen wollten«, sagt Grün. Und so entstand aus 106 Stunden Rohmaterial ein 97-minütiger Film fürs Kino.
Ein Kritiker meinte: »Darin liegt keine Romantik und auch kein neuer Trend. Es ist reine Notwendigkeit. Aber Bitterkeit ist in Wischershausen ebenfalls fehl am Platz.« Am Ende der Milchstraße ist auch am Ende der Tangente. Doch welcher? Wie weit sind Ost und West getrennt? Hat Armut eine Grenze? Dieses Portrait erklärt eine Dorfgemeinschaft, die vom Rest der Republik nicht sonderlich erfasst wird. Doku-Kino eben.
| HARTMUT MALORNY
Titelangaben
Am Ende der Milchstraße
Dokumentation, 2012
97 Minuten
Regie und Drehbuch: Leopold Grün und Dirk Uhlig
Produzenten: Benny Drechsler und Karsten Stöter
Kamera: Börres Weiffenbach
Produktionsleitung: Ricardo Brunn
Ton: Klaus Barm
Filmmusik: Oliver Fröhlich und Jan Weber
Eine Produktion der Rohfilm GmbH
Verleih: Neue Visionen Filmverleih GmbH
Premiere: 24. Oktober 2013 in Berlin