Kolumne | Philipp Weber (Text)/Inka Meyer (Illustration): Der Futterblog
Die Redewendung »Das ist ein Buch mit sieben Siegeln« findet im Allgemeinen Anwendung, wenn Menschen ihr absolutes Unverständnis gegenüber einer sehr komplexen Thematik ausdrücken wollen. Im Grunde bezieht sie sich auf die Offenbarung des Johannes. Dort bricht Christus die sieben Siegel einer Buchrolle und lässt die apokalyptischen Reiter auf die Menschheit los. Ich denke mir oft: Welchen Spaß hätte Jesus in einem deutschen Supermarkt. Denn das ist ein Ort nicht mit sieben, sondern mit über 777 Siegeln: Biosiegel, Gütesiegel, Fairetradesiegel, Prüfsiegel, Umwelt- und Herkunftssiegel und viele mehr … Von PHILIPP WEBER
Jede Milchtüte trägt heute mehr Buttons als der Anzug eines Formel-1-Fahrers. Es gibt alles: Ein »Zahnmännchen« zeichnet Parodontose vereitelnde Süßigkeiten aus. Ein Vegetarier-Label erklärt die Pizza Vegetariana zur fleischfreien Zone. Ein Öko-Wein-Siegel garantiert, dass Ihre Leber biologisch und pestizidfrei nur vom Alkohol geschädigt wird. Alles kann man natürlich nicht haben. Wenn ein Halalsiegel versichert, dass dem Rind beim Schächten sauber die Kehle durchgeschnitten wurde, ist eine Auszeichnung durch den Deutschen Tierschutzbund eher unwahrscheinlich. Manche Siegel wirken auf den ersten Blick ein bisschen befremdlich: Kartoffelknödel mit »100 Prozent deutschen Kartoffeln«. Da will man zum Kochen gleich die Pickelhaube aufsetzen. Ich bin auch für regionale Produkte, aber man muss seinen protektionistischen Patriotismus nicht so in die Welt hinausposaunen. Wir wollen doch nicht, dass das Projekt Europa an Kartoffelknödeln scheitert.
Wobei mich noch mehr irritiert, dass auf einer zunehmenden Zahl von Artikeln das Logo von WWF prangt. Das ist eine Organisation, die sich bekanntermaßen um den Erhalt der Biodiversität kümmert. Aber was hat das WWF-Logo auf einem Joghurt von Danone zu suchen? Gehören probiotische Bakterien jetzt auch zu den bedrohten Arten? Selbst von Fischstäbchen glotzt mich mit großen Augen ein Panda an. Dabei braucht das Vieh gar nicht so traurig zu gucken, schließlich geht es den Fischern an den Kragen und nicht ihm. Teilweise werden Fischarten mit dem Segen des WWF verkauft, die laut Greenpeace gar nicht befischt werden dürften! Wird mit dem Aussterben des Kabeljaus der Erhalt des Pandas finanziert? Das macht den Panda nicht gerade sympathisch. Wenn es um seine Unterstützer geht, scheint der WWF nicht immer sehr anspruchsvoll zu sein. Selbst große Zuchtlachskonzerne, die Küstenregionen in eine Art marine Wüste Gobi verwandelt haben, dürfen sich rühmen, ein Partner von WWF zu sein. Beim Artenschutz darf anscheinend jeder mitmachen … Vielleicht steigt die deutsche Rüstungsindustrie bald beim WWF ein? Unsere Panzer tragen jetzt schon Namen wie Luchs und Leopard. Das sind schließlich auch Tierarten, die vom Aussterben bedroht sind. Da würde der »Raketenwerfer Panda« doch super ins Sortiment passen.
Nemosteak und Nashornschnitzel
Aber auch die Firmen selbst können durch Siegel ein echtes Eigentor schießen. Wenn nur die Hälfte aller Produkte der Firma Costa das MSC-Siegel für nachhaltige Fischerei trägt – ein an sich schon umstrittenes Siegel –, wo kommen dann die Fische her, die nicht mal dieses Siegel tragen? Von philippinischen Piratenfischern, die auf Nemo und seine Freunde mit einer Stange TNT losgehen? Kann man so eine Firma unterstützen? Ich kaufe ja auch nicht bei einem Metzger, der neben Biolammkoteletts von der Schwäbischen Alb Nashornschnitzel aus dem Serengeti-Nationalpark anbietet.
Aber was soll man machen? Irgendein Siegel braucht der Produkthersteller heute, wenn er im harten Konkurrenzkampf der Supermärkte eine Chance haben will. Die Fachhochschule Münster hat festgestellt, dass zwei Drittel der Verbraucher Lebensmittel mit Qualitätssiegeln für vertrauenswürdiger halten als Produkte ohne Siegel. Das Problem ist nur: Weniger als die Hälfte der Konsumenten hat einen Schimmer, was diese Siegel überhaupt aussagen. Das ist doch wie in der Politik: Die besten Umfragewerte haben immer die Politiker, über die man am wenigsten weiß.
Doch die Grundidee der Label ist natürlich gar nicht schlecht. Es soll auf einen hohen Standard in Bezug auf gesundheitliche, soziale oder ökologische Eigenschaften hinweisen. Doch manchmal sind die zugrunde liegenden Kriterien für die Siegelvergabe ziemlich schwammig: Die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft testet ihre Produkte auf Farbe, Konsistenz, Geschmack, Aussehen und Geruch. Ich habe mich auch mal als Tester versucht und DLG-prämierte, eingeschweißte Fertiggeflügelfrikadellen probiert.
Mein Qualitätsurteil lautet:
FARBIGKEIT: schal-fahl bis gräulich-gräulich
KONSISTENZ: außen erst ein bisschen schmierig, innen aber schleimig
AUSSEHEN: zur Boulette verarbeitete Wasserleiche
GERUCH: angenehm abwesend
Und der Geschmack? Man muss schon sehr hungrig sein, um das Zeug wirklich lecker zu finden. Möglicherweise lässt die Landwirtschafts-Gesellschaft die Produkte von bekifften Computerfreaks auf der »Langen LAN-Nacht der Rollenspiele« testen.
Wir sehen: Über Geschmack lässt sich streiten und deshalb auch über den Wert einiger landläufiger Siegel. Was sagt es mir, wenn die Kartoffel aus »kontrolliertem Pfanni-Anbau« kommt? Klar klingt das toll, und es wäre eine fiese Unterstellung zu behaupten, die phonetische Ähnlichkeit zu »kontrolliertem Bio-Anbau« sei mehr als bloßer Zufall. Kontrolliert ist kontrolliert. Fragt sich nur: Wie kontrolliert wer eigentlich was bei Pfanni? Wachen da unabhängige Sachverständige über Pestizidrückstände, oder schickt die Firmenleitung einmal wöchentlich einen Azubi aufs Feld: »Schau mal, ob bei den Kartoffeln alles in Ordnung ist?«
Vom schönen Schein der Siegel
Selbst auf Billig-Eigenmarken wie zum Beispiel Gut und günstig von Edeka prangt heute stolz die Auszeichnung »geprüfte Spitzenqualität«! Doch geht diese geprüfte Spitzenqualität nicht über die gesetzlichen Vorgaben hinaus – das gibt Edeka auch offen zu. Das Siegel bedeutet also nicht anderes, als dass die Produkte halten, was der Gesetzgeber befohlen hat. Das ist nicht gerade ehrgeizig, oder? Da fände ich es ehrlicher zu schreiben: »Auch wenn es im Grunde nicht unserer allgemeinen Firmenpolitik entspricht, haben wir uns bei diesem Frischkäse an die Lebensmittelvorschriften gehalten. Bei dem Mozzarella können wir aber für nichts garantieren.«
Also seien Sie kritisch bei der Beurteilung von Siegeln, die oft mehr Schein als Sein sind. Es gibt natürlich auch einige sehr gute Label, die eine unabhängige und gewissenhafte Zertifizierung gewährleisten. Doch welche das sind, können Sie als Konsument mit dem bloßen Auge nicht herausfinden. Deswegen kaufen Sie bitte keine Siegel, über die Sie sich nicht vorher informiert haben. Es kann gut sein, dass Ihre eigenen Vorstellungen von ökologischen, sozialen oder qualitativen Standards stark abweichen von den Vorstellungen der Menschen, die mit diesen Produkten Geld verdienen wollen. Und legen Sie Ihren Fokus beim Supermarkteinkauf auf einige wenige Siegel. Ich persönlich achte nur auf Umweltsiegel, Fair-Trade-Siegel und Prüfsiegel unabhängiger Stiftungen. Den Rest sollte man gar nicht beachten.
Siegel für Kinderarbeit, Landraub und Ausbeutung
Doch letztlich frage ich mich auch hier: Warum hilft die Politik uns Konsumenten nicht? Wäre es nicht besser, wenn wir die Label gar nicht benötigten? Wäre es nicht besser, wenn man hohe ökologische, soziale und sonstige Standards für Waren als Voraussetzung gesetzlich festlegte? Und wer dagegen verstößt, bekäme vom Ministerium für Verbraucherschutz »SAUEREI-Siegel« verpasst? So ähnlich wie der grüne Punkt. Für den Anschluss an das Duale System für die Müllentsorgung müssen die Unternehmen auch bezahlen. Warum sollte sich das bei den übrigen Kollateralschäden des globalen Wirtschaftssystems anders gestalten?
Wenn ein Hersteller mit seinen Produkten weiterhin seine Mitmenschen ausbeuten, die Umwelt zerstören oder seine Kunden verarschen will, ist das vollkommen in Ordnung. Das ist Kapitalismus. Er sollte dafür nur eine Lizenz erwerben müssen. Seine Produkte würden gekennzeichnet: Bei Niedriglohnsklaverei, Kinderarbeit, Landraub, Verhinderung von gewerkschaftlicher Organisation und Verstoß gegen die internationalen Arbeitsschutzbestimmungen gäbe es dann für die Billigschokolade aus Ghana als Label den fetten Blutspritzer. Bei Urwaldrodung, Giftspritzerei, absurder Verschwendung von Wasser, Energie und sonstigen natürlichen Ressourcen zierte ein Orang-Utan-Baby mit zertrümmertem Schädel die Weihnachtskerzen aus Palmöl. Und für Lebensmittelpanscherei, dubiose Lobbyarbeit, miese Marketingtricks und Verbrauchertäuschung wird der Diät-Analogkäse mit einem schönen, dampfenden Scheißhaufen prämiert.
Damit käme endlich Licht in den Siegeldschungel. Für die Industrie und ihre Aktionäre wäre das natürlich die Apokalypse, aber für den Rest der Welt eine echte Hilfe.
| PHILIPP WEBER (Text)/INKA MEYER (Illustration)
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