Gutes Netz, böses Netz

Gesellschaft | Roman Maria Koidl: Web Attack / Michel Serres: Erfindet euch neu!

Die zwei Bücher »Web Attack« und »Erfindet euch neu!« befassen sich mit der Frage, wie und was wir von uns im Netz lassen. Und zeigen dabei die ganze Bandbreite der Diskussion auf. Von JAN FISCHER

KoidlSerres
Stellen wir uns kurz einmal zwei Menschen in einem Raum vor. Der eine ist Roman Maria Koidl, der auf seinem Autorenfoto vage smart und bebrillt rüberkommt und sich seinen Ruhm als Gründer der Kette »World Coffee«, als kurzeitiger Online-Berater von Peer Steinbrück sowie als Buchautor und Kunstmäzen erwarb.
Der andere ist ein 83jähriger französischer Philosoph mit leuchtenden Augen, Michel Serres, der auch mal ein Duzfreund von Michel Foucault, dem glatzköpfigsten aller Poststrukturalisten war.

In der Ecke schmollen

Stellen wir uns vor, diese beiden reden übers Internet, liegt nahe, beide haben Bücher darüber geschrieben. Serres einen charmanten, optimistischen Essay namens »Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation«, Koidls heißt »Web Attack. Der Staat als Stalker«. Wahrscheinlich – das ist ja immer noch ein Gedankenspiel – gehen die beiden sich nach spätestens fünf Minuten an die Kehle. Oder stellen sich in eine Ecke und fangen an zu schmollen.

Paranoia und Zukunftsgläubigkeit

Denn die beiden Bücher könnten sich nicht unähnlicher sein. Serres schildert – und man sieht dabei immer diese leuchtenden Augen vor sich – eine Generation, die immer im Austausch ist, die sich gegenseitig weiter bildet, die den Schritt von einer individuellen Stimme zu einem gigantischen kollektiven Gesumme vollzogen hat, das sich über den Globus ausbreitet. Eine Gesellschaft, in der Lehrer nicht mehr nötig sind, in der jeder dem anderen etwas beizubringen hat, und es auch jeder tut. Er sieht eine Welt, in der das Denken selbst neue Formen annehmen muss, weil da nicht mehr einer denkt, sondern alle gleichzeitig. Er geht dabei aus von Wesen, die er der »Däumling« und »Däumelinchen« nennt, Wesen, die jung sind, immer den Daumen auf ihren Smartphones haben und damit die heißeste Sache seit dem Buchdruck unermüdlich voran treiben.

Koidl sieht dasselbe – diese Menschen, die immer und überall auf Ihren Telefonen herumtippen – und ist überhaupt nicht amüsiert. Weil dieses ganze Herumgetippe und Daten-hin-und-her-Geschiebe auch immer Spuren hinterlässt, Spuren, für die sich die großen Konzerne interessieren, weil sich damit Ihre Produkte besser an den Mann bringen lassen, weil sich damit Konsumverhalten und überhaupt verhalten voraussagen lässt. Persönliche Daten, die nicht mehr einem selbst gehören, sondern dem »System« – das ist ein Konvolut aus globalem Hyperkapitalismus und dem Staat – das damit nichts Gutes im Sinn hat, sondern nur Profit zuungunsten der Privatsphäre.

Auf dem anderen Auge blind

Man kann beiden Büchern vorwerfen, dass sie sich zugunsten starker Thesen Scheuklappen aufsetzten. Serres ist Theoretiker, der sich seine schöne Vorstellung gar nicht erst von Dingen wie aktuellen Entwicklungen oder Fakten stören lässt. Koidl ist Praktiker, in dessen Faktenstrickwerk kein Platz für irgendwelche blauäugigen Ideologismen ist, es sei denn, es gibt eine Verschlüsselungs-App dafür. Auf dem jeweils anderen Auge sind beide blind. Deshalb macht es Sinn, beide Bücher zusammen zu lesen. Jedes ergänzt die Perspektive des jeweils anderen und zusammen ergibt sich ein gutes Gleichgewicht aus Paranoia und Zukunftsgläubigkeit.

Utopie und Dystopie

Die Bücher stehen jeweils am entgegensetzen Ende der aktuellen Diskussion über die Frage, wie es mit dem Netz jetzt weitergehen soll – niemand würde leugnen, dass es uns riesige Möglichkeiten bietet, und möglicherweise das wichtigste Instrument ist, dass wir in den letzten Jahren in die Hand bekommen haben. Gleichzeitig leugnet auch niemand, dass sich hinter jedem Klick knallharte ökonomische Interessen verbergen. Der Kulturkampf im Netz findet genau zwischen diesen Extremen statt. Vielleicht ist es deshalb nicht nur ratsam, beide Bücher zu lesen – sondern auch »Erfindet euch neu!« als eine Utopie und »Web Attack« als Dystopie. Und sich dann zu entscheiden, in was für einer Welt man leben möchte.

| JAN FISCHER

Titelangaben
Roman Maria Koidl: Web Attack. Der Staat als Stalker
München: Goldmann 2013
143 Seiten. 8,99 Euro

Michel Serres: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation
Berlin: Suhrkamp 2013
77 Seiten. 8 Euro

Reinschauen
Leseprobe – Roman Maria Koidl: Web Attack (pdf)
Leseprobe – Michel Serres: Erfindet euch neu! (bic-media)

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mutti! Entführt!

Nächster Artikel

Ein Hingucker

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Liebesgeschichte der besonderen Art

Gesellschaft | Karin Kneissl: Mein Naher Osten Wenn deutsche Auslandskorrespondenten, besonders solche mit Standort Nahost, anfangen, ihre privaten Befindlichkeiten auszupacken, ist meist Vorsicht geboten. Allzu oft dienen Reisestrapazen oder Hotelprobleme dazu, komplexere Sachverhalte zu überdecken. Ganz anders in Karin Kneissls ›Mein Naher Osten‹, obwohl es sich auch hier um eine sehr persönliche Beziehung zu einer ganzen Region handelt. Von PETER BLASTENBREI

Vom Ende des Begehrens

Gesellschaft | Byung-Chul Han: Agonie des Eros Vorsichtige Einwände treffen das Format, nicht den Inhalt dieses Essays, der beinahe fast-food-like präsentiert wird. Nicht leicht verdauliche Inhalte sind in angenehm beschwingtes Design gekleidet, ein Schnupper-Paket gewissermaßen mitsamt einer Verpackung, die zum Konsum verführt. Man könnte meinen, dass der Verlag seine Leser von dort abholen möchte, wo sie sich befinden. Damit wären wir beim Thema der Agonie des Eros. Von WOLF SENFF

Besorgte Juristen

Gesellschaft | O. Depenheuer, C. Grabenwarter (Hgg.) Der Staat in der Flüchtlingskrise – Zwischen gutem Willen und geltendem Recht Langsam dämmert es nicht nur den wachen Zeitgenossen: Die Fluchtbewegung, die jetzt auch bis zu uns führt, ist kein Intermezzo, sondern wohl Vorbote künftiger massiver Migrationen – Stichwort Klimawandel. Eine knackige Herausforderung, für die humanitären Kräfte einer Zivilgesellschaft wie für ihre demokratischen Fundamente, zumal in Zeiten des viralen Alarmismus. Gut, wenn sich Experten die Lage mal gründlich ansehen. Von PIEKE BIERMANN

Ein nicht angenehmer Spiegel

Gesellschaft | Jan Stremmel Drecksarbeit

Diese 192 Seiten tun weh, irritieren, machen mehr als nachdenklich. ›Drecksarbeit‹, der Titel ist für manche dieser zehn Geschichten noch untertrieben. Jan Stremmel will treffen, will wachrütteln, will aufklären. Von BARBARA WEGMANN

Im Lauf der Zeit

Kalender | Literaturkalender 2021

Alles fließt (dahin) – Wochen, Monate, Jahreszeiten. Was könnte uns verlässlicher Halt und Orientierung bieten als Kalender? Unterlegt mit der passenden Dosis Literatur, mit anregenden Zitaten, aufmunternden Gedichten und spannenden Ausblicken auf bislang Unbekanntes erscheint das kommende Jahr schon greifbar nah. INGEBORG JAISER stellt einige empfehlenswerte Literaturkalender vor.