Gesellschaft | Gerhard Schweizer: Islam verstehen – Geschichte, Kultur und Politik
Warum fühlen nichtmuslimische Europäer sich bedroht, wenn ihnen bärtige Männer mit Turbanen in der S-Bahn begegnen? Weshalb denken Muslime, Christen wären intolerant gegenüber ihrem Glauben? Kreuzzüge, Kopftücher, »Heiliger Krieg«: Der islamisch-abendländische Konflikt ist der eines ganzen Jahrtausends voller historischer Fundamente, die die Basis für heutige interkulturelle Differenzen, Barrieren und Feindbilder legen. Stehen wir wirklich vor einem »Kampf der Kulturen« oder öffnen wir uns einem Dialog auf Augenhöhe? Von MONA KAMPE
Wir alle kennen solche Situationen, in denen wir mit anderen Kulturen und Sitten konfrontiert werden – sie machen uns Angst, denn wir begeben uns auf unbekanntes, ungewohntes Terrain. Oft ergeht es etwa nichtmuslimischen Europäern so, wenn sie auf islamische Gruppen treffen, die aus bärtigen Männern mit Turbanen oder Frauen mit Kopftüchern oder gar Burkas bestehen. Es laufen meist die gleichen Vorurteile im Kopf ab: Von »rückständige Zuwanderer« über »kein Wille zur Integration« bis hin zu »Selbstmordattentätern«, vor denen man sich in Acht nehmen muss.
Ein anderes Szenario findet man in Tunesien. Dort sind Touristen oft überrascht, wenn sie leicht bekleidet oder mit viel nackter Haut keine Moscheen besichtigen dürfen. Die Einwohner hingegen interpretieren dieses Verhalten als mangelnden Respekt gegenüber ihrer Konfession. Wie kommt es zu diesen kulturellen Klischees zwischen Muslimen und Christen?
Jahrtausendkonflikt zwischen Abendland und Orient
Großes Konfliktpotenzial besteht bereits in der unterschiedlichen Überlieferung der Glaubenssätze in beiden Konfessionen. Da für den Islam feststeht, dass der Prophet Mohammed die Botschaft unmittelbar durch einen Engel von Allah empfangen und unverändert niedergeschrieben sowie verkündet hat, sehen Anhänger die christliche Bibel, die erst später verschriftlicht wurde, als von Menschenhand verarbeitetes Medium an, das nicht vollkommen getreu verfasst werden konnte. Zudem distanzieren sie sich als monotheistische Glaubensgemeinschaft von dem scheinbar abendländischen Polytheismus, der Jesus als den Sohn Gottes ausweist und verehrt – so auch den Heiligen Geist. Des Weiteren sehen sie die heutige christliche Toleranz gegenüber Atheisten als sehr fragwürdig an und zeigen keinerlei Verständnis für diese.
In den über die Jahrhunderte geführten Kriegen – etwa die Kreuzzüge -, in denen die Konfessionen gegenseitiges Territorium eroberten und besetzten, legte sich das historische Fundament für viele gegenwärtige Vorurteile und Feindbilder. Während der Islam aufgrund der Glaubenssätze im Koran andere Religionen zwar seiner unterordnete, aber respektierte und nur Ungläubige als abgefallen ansah und versuchte zu bekehren, agierte das Christentum mit Intoleranz und Gewalt, um dem Orient den Geist der westlichen Moderne aufzusetzen. »Säkulare Staaten und Regierungen« brachten hier jedoch nur für eine kleine Oberschicht soziale Sicherheit, alle anderen Bevölkerungssteile kämpfen vor allem heute mit Armut, Instabilität und Desintegration.
Gefährlicher Nährboden für radikale Gruppierungen
Dieser soziale Unmut und Unsicherheit kann Muslime weltweit dazu verleiten, sich radikalen Gruppierungen wie ›al-Qaida‹ und dem ›Islamischen Staat‹ anzuschließen bzw. macht es diesen Glaubensgemeinschaften leichter, Anhänger zu gewinnen. Ihre Enttäuschungen und soziale Frustrationen führen zu einer Abkehr von oder Auflehnung gegen westliche(n) Prinzipien und zu einer Berufung auf traditionelle, konfessionelle islamische Werte, die ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit geben – dies geht bis zur Aufopferung für einen höheren Zweck, dem Märtyrertum. Das aus ihrer Sicht überhebliche Abendland ist auch verwundbar – wie die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA zeigten, die international für Entsetzen sorgten.
Viele islamische Staaten »verurteilen den Terrorismus als das falsche Mittel, politische Konflikte auszutragen«. Und nicht jeder nichtmuslimische Europäer fühle sich anderen Kulturen moralisch überlegen – die »Erblast der Kreuzzüge wie auch der modernen Schrecknisse von Kolonialismus, Faschismus und Stalinismus« beweisen das Gegenteil. Beide Seiten neigen aufgrund ihrer Historien dazu, die über Jahrhunderte etablierten Vorurteile und Feindbilder zu pauschalisieren und sich zu misstrauen.
»Kampf der Kulturen« oder Dialog auf Augenhöhe?
Die gesellschaftlichen Entwicklungen in Syrien, Irak, Iran, Türkei, Libanon, Sudan, Algerien, Ägypten, Afghanistan und Indonesien zeigen, dass sich die islamische Kultur in unzählige, partiell widersprüchliche Strömungen teilt – etwa Sunniten und Schiiten. Diese bergen ein innerkulturelles religiöses sowie politisches Konfliktpotenzial, das für zukünftige Konfrontationen im Orient wesentlicher sein wird als die Dissonanzen mit dem christlichen Abendland. Der Islam ist daher – auch in Bezug auf die verstärkte Zuwanderung in Europa – nicht als einheitlicher Block zu begreifen; auch der radikale Terrorismus ist nur eine Ausdifferenzierung mit einer geringen Minderheit als Sympathisant.
Die Angst vor »Überfremdung« ist dennoch gerade aufgrund der Zuwanderung im Abendland präsent – Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Desintegration schüren jedoch nur das gegenseitige Misstrauen. Der Weg zu einem pluralistischen Staat, der von allen Seiten Anerkennung findet, ist steinig – »es stehen gleichermaßen Umbrüche bevor, deren Risse und Verwerfungen quer durch die gesellschaftlichen Institutionen verlaufen.«
Die Konfrontation mit der westlichen Welt (über)fordert den Islam oft – einerseits steigt die muslimische Bereitschaft, sich selbstkritisch mit ihrer eigenen Konfession auseinanderzusetzen, was einen interkulturellen Dialog fördert, andererseits regt sich Widerstand von Traditionalisten und Islamisten. Das Abendland neigt jedoch dazu, seine gesellschaftliche Entwicklung als Maßstab sowie Vorbild für die »Moderne« anzusehen und eingefahrene Denkmuster selten zu hinterfragen. Diese Überheblichkeit ist gerade in Hinblick auf Modernisierungsprozesse in Asien unrealistisch – denn diese emanzipieren sich deutlich von seinen Vorstellungen. Eine Islamische Moderne benötigt Zeit und einen intensiven Diskurs mit den eigenen Kulturtraditionen.
Gerhard Schweizer, promovierter Kulturwissenschaftler und freier Schriftsteller, zeichnet mithilfe seiner zahlreichen Reiseeindrücke und Dialoge mit der islamischen Welt ein differenziertes, gleichwertiges Bild des Jahrtausendkonfliktes zwischen den geistig verwandten monotheistischen Religionen in Abendland und Orient. Er setzt bei historischen Entwicklungen an und schlägt anhand von einigen Fallbeispielen eine eindrucksvolle Brücke zu gegenwärtigen interkulturellen sowie interreligiösen Problemfeldern, die den Leser dazu ermutigt, sich mit fremden Sitten und Denkweisen auseinanderzusetzen, um neue Perspektiven auf die eigenen (eingefahrenen) zu gewinnen. »Dies erst bedeutet, einen Dialog mit nachhaltigen Folgen zu beginnen.«
Titelangaben
Gerhard Schweizer: Islam verstehen – Geschichte, Kultur und Politik
Stuttgart: Klett-Cotta 2016
612 Seiten, 9,95 Euro
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