Gesellschaft | Ulrike Herrmann: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung
Was sagt man dazu? Es handelt sich wieder um eine jener völlig überzeugenden ökonomischen Darstellungen, die die Historie der Ökonomie zusammenfassen und darauf hinweisen, dass es längst Lösungsstrategien für die aktuellen wirtschaftlichen Schieflagen gibt. Von WOLF SENFF
Schade nur, dass das bei denen, die etwas ändern können, niemanden hinter dem Ofen hervorlocken wird, und wir lernen daraus, dass Vernunft so egal ist, dass man es kaum glauben mag. Es geht jenen Leuten ausschließlich darum, die bestehende Verteilung von Geld und Macht nicht zu gefährden, und dieses ist die radikale »Leitkultur«, die das Verhalten unserer hiesigen Eliten lenkt. Man muss sich einmal vergegenwärtigen, welche Verachtung für die Bevölkerung dahintersteht und welches Ausmaß an Beratungsresistenz solche Herrschaften »schmückt«.
Oh das blendende Licht der Kameras
Schön und gut, das muss gesagt werden. Denn diese Herrschaften sind ja keineswegs blöd. Sie sind bestens informiert, sie wissen genau, was sie tun und welche Konsequenzen ihr jeweiliges Eingreifen oder ihre Untätigkeit für die Bevölkerung hat, und es ist ihnen egal, aber so was von egal, sie treten lächelnd vor die Kameras.
Wer aber allzu oft unter das gleißende Licht der Kameras tritt, dessen Sehvermögen schwächelt. Diese Leute nehmen nicht mehr wahr, dass sich ein Wandel vollzieht. Berlins Kulturbürokratie besetzt die Intendantenposten in neofeudalem Habitus, während in den Theatern wieder Peter Weiss aufgeführt wird, Brechts ›Frau Carrar‹ diskutiert die Gewaltfrage, das absurde Theater der frühen sechziger Jahre erlebt eine Renaissance.
Beschränkte professorale Kompetenz
Was das mit Ulrike Herrmann zu tun hat? Nun denn, »it’s the economy, stupid«, und es ist mühelos nachvollziehbar, wessen Geldbeutel durch das Nichtstun der Politik gefüllt und wo das Geld abgezogen wird. Zwar hackt eine Krähe der anderen kein Auge aus, und eine Hand wäscht die andere, so geht’s. Aber die Kultur ist hellhörig, und der Wandel der Spielpläne deutet auf atmosphärische Veränderung, wir werden sehen.
Ulrike Herrmann rückt in ihrem historischen Abriss der ökonomischen Theoriebildung einige Missverständnisse zurecht, etwa die schiefe Wahrnehmung Adam Smiths durch die universitäre Lehre, sie kritisiert die lediglich auf Ausschnitte beschränkte Wahrnehmung ökonomischer Realität durch die neoklassische Theorie und stellt ausführlich die erneuernden Beiträge von John Maynard Keynes dar.
Politische Entscheidung tut not
Die neoklassische Lehre fuße auf einem realitätsfernen Konzept von »Markt« und »Wettbewerb«, sie ignoriere die Rolle der »Macht«, z. B. in der Monopolbildung, sie biete keine hinreichende Hilfestellung für ökonomische oder politische Entscheidungsprozesse, das für Keynes wesentliche Thema Geld werde kühl ignoriert.
Ulrike Herrmann verweist in der Ausarbeitung des Neoliberalismus auf Friedrich von Hayek und Milton Friedman und als dessen Konsequenz auf die Verselbstständigung der Finanzwirtschaft: »Die Finanzkrise kostet Billionen«. Es steht außer Zweifel, dass diese äußerst gefährliche Situation nur durch politische Entscheidungen entschärft werden kann.
Unterhaltsame Lektüre
Zwar wird gerade wieder einmal – zum wievielten Mal eigentlich? – davon geredet, dass die Finanztransaktionssteuer europaweit eingeführt werden soll, doch Ulrike Herrmann verweist auf weit wirksamere Maßnahmen, die bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts von John Maynard Keynes ausgearbeitet wurden. Was lange währt, wird endlich gut? Zweifel an der Vernunft politischen Handelns sind gerechtfertigt.
All das ist nicht etwa geeignete Lektüre nur für den wissenschaftlich Interessierten, sondern ist mit unterhaltsamen Exkursen in die Biografien versehen und in einer Sprache verfasst, dass auch der von Vorwissen unbelastete Leser dieses Werk mit Gewinn lesen wird.
Titelangaben
Ulrike Herrmann, Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der Ökonomie oder: Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können
Frankfurt: Westend 2016
287 Seiten, 18 Euro
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