Ist das schon Sozialtourismus?

Jugendbuch | Rena Dumont: Paradiessucher

Mit der Definition »Gesamtheit der Ortswechsel, die die Betreffenden nur vornehmen, um sich in den Genuss bestimmter Sozialleistungen zu bringen« wurde der Begriff »Sozialtourismus« zum Unwort des Jahres 2013 gekürt. Ist es das, was die 17jährige Lenka und ihre Mutter aus einer tschechischen Kleinstadt tun, als 1986 für sie ein Urlaub in der BRD zum Sprungbrett ins Westparadies wird? ANDREA WANNER hat der Ich-Erzählerin aufmerksam zugehört.
Paradiessucher
Der Traum von Lenka ist die Schauspielschule. Dieser Traum des jungen Talents ist ausgeträumt, als sie sich zum Vorsprechen für einen Text des amerikanischen Schriftstellers Tennesse Williams entscheidet. Im Sozialismus der 80er Jahre eindeutig eine falsche Entscheidung, wenn frau Karriere machen möchte. Aber Unfreiheit und Enge dominieren auch sonst das Leben von Lenka und ihrer Mutter, da kommt das Ticket ins Paradies gerade recht.

Träume

Die 1969 in Mähren geborene Schauspielerin Rena Dumont erzählt in ihrem ersten Roman auch ihre eigene Geschichte von der Auswanderung in ein fremdes Land, das vermeintliche Paradies. Sie hat es geschafft, ist seit 1995 Schauspielerin an verschiedenen deutschsprachigen Bühnen und nun geht ihr Blick zurück. In der Figur Lenka lässt sich ein Stück von sich selbst lebendig werden, berichtet, wie das damals war mit einem zweiwöchigen Visum in der Tasche alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben in einem neuen Land zu wagen.

Paradies? Das muss etwas anderes sein. Nüchtern und direkt lässt sie ihre Ich-Erzählerin von heimlichen Abschieden und dem Abreißen von Brücken berichten, die zurückgeführt hätten. Sie könnten zurück. Aber es müsste innerhalb der Gültigkeitsdauer des Visums geschehen. Stattdessen fällt der Satz »Wi wont politikl Asil« und aus den Gästen und Touristen werden Asylsuchende.
Wer nicht weiß, wie es Asylsuchenden in diesem, unserem Land 1986 in der BRD ging und heute in Deutschland geht, wir hier Dinge erfahren, über die er nur staunen kann. »Anreizminderung« nennt man es, wenn den Asylsuchenden das Leben so weit als möglich erschwert und zur Hölle gemacht wird. Für die ich-Erzählerin sind schon so Dinge wie ein geregelter Schulbesuch plötzlich ein ferner Traum, um den gekämpft werden muss. Sie tut es. Und sie schafft es.

Es ist ein Buch, das man atemlos liest, voller Scham an vielen Stellen über das, was Menschen, die hier Asyl suchen, ertragen müssen. Es ist ein Buch, das einem die Augen öffnet, weil es aus der Perspektive einer Betroffenen erzählt wird und weil die Autorin die Dinge, über die sie schreibt, selbst erlebt hat. Es ist ein Buch, das eine Geschichte beschreibt, die nun schon ein paar Jahre zurückliegt. Aber es ist ein Buch, das bestätigt, dass das Wort »Sozialtourismus« 2013 zu Recht zum Unwort des Jahres gewählt wurde.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Rena Dumont: Paradiessucher
München: Hanser 2013
304 Seiten. 14,90 Euro
Ab 14 Jahren

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Some Tunes To Help Fight Those January Blues!

Nächster Artikel

Die Hauptstadt der Zwietracht

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Romantische Mystery für den Nachwuchs

Jugendbuch | Christopher Ross: Die Farben deines Herzens Eines Tages haben sie ausgedient, das tapfere Schneiderlein und die schöne Prinzessin, Dornröschen, Rapunzel und die kleine Meerjungfrau, sogar die von Disney. Die junge Leserin wünscht sich etwas, das dem wahren Leben näher ist. Aber so richtig echt soll es nicht sein. Liebe muss selbstverständlich vorkommen. Romantik. Spannung. Und ein Schuss Fantastik. Der Markt bietet auch das. Von MAGALI HEIẞLER

Taschenspielertricks

Jugendbuch | Holly-Jane Rahlens: Das Rätsel von Ainsley Castle

Lizzy ist mit ihrem Vater zu dessen neuer Freundin, die ihre Stiefmutter werden soll, gezogen. Das neue Zuhause ist ein bisschen merkwürdig: ein großes Hotel an der schottischen Küste. Aber das ist bei Weitem noch nicht das Merkwürdigste. Von ANDREA WANNER

Was es noch alles zu entdecken gibt

Kinder- und Jugendbücher | Buchmarkt in Russland – 7. Berliner Bücherinseln vom 28. Mai bis zum 12. Juni Wie spannend, farbig, originell es auf dem Kinderbuchmarkt in Russland heute zugeht, erzählten Olga Maeots, Leiterin der Kinderbuchabteilung der M.I. Rudomino-Bibliothek für fremdsprachige Literatur und die beiden Verlegerinnen Tanya Kormer und Ksenia Kovalenko, alle drei aus Moskau, anlässlich einer Veranstaltung der 7. Berliner Bücherinseln vom 28. Mai bis zum 12. Juni, die in diesem Jahr Buch und Lesen in Russland zum zentralen Thema hat. Von MAGALI HEISSLER

Besondere Kräfte

Jugendbuch | Sonia Fernández-Vidas: Quantic Love 1686 formuliert Isaac Newton erstmals sein Gravitationsgesetz, das besagt, dass jeder Massenpunkt jeden anderen Massenpunkt mit einer Kraft anzieht, die entlang der Verbindungslinie gerichtet ist. Und was passiert, wenn ein weiterer Massenpunkt dazukommt? ANDREA WANNER war neugierig.

Macht korrumpiert

Jugendbuch | M. A. Bennett: Sieben

Lincoln Selkirk ist das typische Opfer, das in der Schule von allen gemobbt. Intelligent aber unsportlich, belesen, aber nicht in der Lage mit Gleichaltrigen zu kommunizieren, werden drei Jahre in Osney für den Sohn eines Professorenehepaars zur Hölle. Bis das Blatt sich wendet. Von ANDREA WANNER