Illustrierte Gedankenspiele

Comic | Fábio Moon & Gabriel Bá: De:Tales

Nach ihrer gefeierten Graphic Novel Daytripper hat sich BORIS KUNZ nun auch dem Frühwerk des brasilianischen Zwillingsbrüderpaares Gabriel Bá und Fábio Moon angenommen: De:Tales, eine Kurzgeschichtensammlung nach ganz ähnlichem Rezept. Die beiden vermischen Alltägliches mit einer Prise Übersinnlichem und suchen nach jenen unscheinbaren Augenblicken im Leben, denen die Magie eines Schicksalsmoments innewohnt. Das Ergebnis ist ebenfalls teils magisch, teils eher banal.
De:tails
Natürlich gibt es ein übergeordnetes Thema, und das ist denkbar simpel: Junge trifft Mädchen. Alternativ: Junge trifft Mädchen nur beinahe. Manchmal treffen oder verpassen sich auch noch andere Menschen, wobei mindestens einer der Protagonisten eigentlich fast immer als ein Alter Ego oder eine direkte Darstellung von einem der beiden Zwillingsbrüder identifiziert werden kann. Einer der beiden taucht in jeder Episode auf und würzt die Erzählungen so mit der Behauptung des Autobiographischen.

Magischer Realismus

Wobei man die teilweise wirklich sehr kurzen Episoden eigentlich gar nicht Erzählungen nennen sollte, sondern eher illustrierte Gedankenspiele. In einer nur zwei Seiten umfassenden Episode etwa sitzen die beiden Brüder an der Bar und der eine überlegt sich, ob er das hübsche Mädchen ansprechen soll, das in einer Ecke allein an ihrem Tisch sitzt und zu ihnen herüberschaut. »Tu es«, ermahnt ihn sein Zwilling, »denn wenn du es nicht tust, wäre es genauso, als wäre das hier jetzt niemals passiert.« Das sieht der andere zwar ein, doch als er sich noch einmal nach dem Mädchen umdreht, ist deren Tisch bereits leer und verwaist. Die Begegnung hat nicht stattgefunden, und niemand wird mehr sagen können, ob sie banal gewesen wäre oder ein Leben verändert hätte.

Von solchen verpassten aber auch von wahrgenommenen Chancen handeln diese »Geschichten aus dem urbanen Brasilien«. Die Erzähler streuen poetische, märchenhafte Motive in den Lebensalltag ein, die nicht mit Wucht hereinbrechen, sondern sich still und wie selbstverständlich ihren Platz darin sichern, als gehörten sie dazu. Ein Mädchen zeichnet mit dem Finger leuchtende Verbindungslinien zwischen einzelnen Sternen in den Nachthimmel und macht auf diese Weise neue Sternbilder sichtbar. Ein paar Kumpels überraschen ihren verstorbenen Freund zum Geburtstag, in dem sie ihn für einen sentimentalen Kneipenabend aus dem Jenseits zurückholen.
Fábio Moon begegnet mehreren alternativen Versionen seiner selbst am Kneipenpissoir, die sich von ihm und voneinander nur dadurch unterscheiden, ob und wie sie gerade eben ein bestimmtes Mädchen angesprochen haben. Die bittere Lektion, die der Protagonist durch diese Schemen aus anderen Realitäten lernen muss: »Du kannst niemand anderer sein, als du selbst.« Seiner eigenen Realität kann man nicht entfliehen. Was nicht geschehen ist, wird ungeschehen bleiben – da hilft auch alle Magie nicht weiter.

Grübeleien mit Tusche

Was sich also in einfachen, zuweilen sogar irritierend banalen Geschichten tarnt, sind vor allen Dingen Grübeleien darüber, ob wir Menschen überhaupt in der Lage sind, Schicksalsmomente zu erkennen, wenn wir ihnen gegenüberstehen, oder ob wir unser Leben vielleicht nicht gleich so leben müssten, als wäre jeder Moment ein entscheidender. Manchmal kann die Lektüre des Comics auf diese Weise zum Grübeln anregen, manchmal lassen sich die aufgeworfenen Fragen und gemachten Beobachtungen aber auch mit einem schulterzuckenden »Ja, so ist das Leben eben« kommentieren.

Zeichnerisch sind die beiden Brüder auch schon in diesem Frühwerk voll auf der Höhe. Die schwarz-weißen Zeichnungen, abwechselnd von Bá und Moon ausgeführt, sind lebendig und detailreich, stimmungsvoll und aussagekräftig und mit sicherem Strich gesetzt, wobei Gabriel Bá immer ein wenig reduzierter, Fábio Moon immer ein wenig plastischer an die Sache herangeht. Durch die regelmäßige Abwechslung ihrer beiden durchaus vergleichbaren Stile wirkt das kleine Comicbändchen grafisch sehr geschlossen. Die sehr ähnlich gelagerte Tonalität sämtlicher Episoden lässt darauf schließen, dass die Zwillinge die Geschichten wohl gemeinsam entwickelt und sich die Zeichnungen anschließend aufgeteilt haben – oder aber darauf, dass Zwillinge eine sehr ähnliche Sicht auf die Welt haben.

Hat man den Band erst einmal begonnen, hat man ihn recht schnell bis zu Ende verschlungen. Zum einen liegt das daran, dass er viele durchaus anrührende Momente hat, und zum anderen daran, dass er den Leser auch nicht gerade mit einer allzu komplizierten Handlung intellektuell überfordert. De:Tales ist ein souverän gestalteter, locker flockiger und relativ unprätentiöser Comic, der hin und wieder verzaubern kann, einen aber nicht durchgehend fesselt.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Fábio Moon & Gabriel Bá (Text und Zeichnungen): De:Tales
Aus dem Englischen von Frank Neubauer
Ludwigsburg, Amigo Grafik 2013, 112 Seiten, 15 €

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