Märchenhafter Frauenversteher

Kurzprosa | J.M.G. Le Clézio: Der Yama-Baum und andere Geschichten

Der Yama-Baum – neue Erzählungen von Nobelpreisträger J.M.G. Le Clézio. Von PETER MOHR

Clezio Yama-BaumAls dem Franzosen Jean-Marie-Gustave Le Clézio im Oktober 2008 völlig überraschend der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde, rühmte ihn die Stockholmer Akademie als »Verfasser des Aufbruchs, des poetischen Abenteuers und der sinnlichen Ekstase – ein Erforscher einer Menschlichkeit außerhalb und unterhalb der herrschenden Zivilisation.« In einer ebensolchen, leicht exotisch anmutenden Sphäre sind die neun Erzählungen des neuen Bandes angesiedelt – Le Clézios erste Veröffentlichung nach dem Nobelpreis, die er mit einem 15-seitigen »approximativen Apolog« angereichert hat, in dem er über seine eigene Rolle als Autor philosophiert.

Im Mittelpunkt stehen unkonventionelle Frauenfiguren, die sich beharrlich gegen ihre oftmals schlechten Lebensverhältnisse zur Wehr setzen und innerlich hin- und hergerissen sind zwischen Revolte und Anpassung. Der 73-jährige Le Clézio, dessen biografische Wurzeln nach Mauritius reichen, entführt uns an Handlungsorte, die sich weit entfernt von Mitteleuropa und damit außerhalb unseres eigenen Erfahrungshorizonts befinden. Ob die Frauen Ujine, Fatou, Andreá, Mari oder Esmée heißen, ob sie auf der Insel La Gorée, auf Mauritius oder in Liberia leben: Sie haben alle mit den Nachwehen des Kolonialismus zu kämpfen, müssen den schwierigen Spagat zwischen Tradition und Moderne wagen und laufen dabei Gefahr, nichts geringeres als die eigene Identität einzubüßen.

Märchenhaft und bisweilen leicht mythisch lesen sich Le Clézios sprachlich ausgefeilte und detailverliebte Geschichten, die wie ein opulentes, farbenprächtiges Landschaftsgemälde auf den Leser einwirken. Bedächtig, geradezu anmutig wird hier erzählt, dem Nobelpreisträger geht es nicht um Spannung und um effektvolle Plots, sondern die Poesie ist seine Triebfeder.

All diese Charakteristika, die Affinität zum Märchen, die kunstvolle Sprache und die mythischen Motive vereint die Titelgeschichte »Der Yama-Baum« am eindrucksvollsten. Die Hauptfigur, ein kleines Mädchen namens Mari, das seine Mutter verloren hat, versteckt sich in einem Baum vor den metzelnden Soldaten im liberianischen Bürgerkrieg, und daraus resultiert ein inniges, instinktives, fast menschenähnliches Verhältnis zum Beschützer-Baum. Später sucht Mari noch einmal dort mit ihrer Freundin Esmée Schutz: »Hier hat der Wahnsinn der Menschen keinen Zutritt, sie sind weit weg von der Gier der Menschen nach Macht, ihrem Dürsten nach Blut, ihrem Begehren nach Diamanten.« Die archaische Natur als Flucht- und Schutzpunkt – eine im wahrsten Sinne des Wortes »fabelhafte« Quintessenz.

Zugegeben, das ein oder andere Happy-End des märchenhaften Frauenverstehers Le Clézio kommt mit allzu großem Pathos daher und streift haarscharf die Grenze zum Kitsch. So auch die leidvolle Romanze zwischen Fatou und einem gewissen Watson: »Sie trennten sich nie mehr, sie blieben für immer beisammen, bis ins hohe Alter.«

| PETER MOHR

Titelangaben
J.M.G. Le Clézio: Der Yama-Baum und andere Geschichten
Aus dem Französischen von Uli Wittmann
Köln: Kiepenheuer und Witsch 2013
359 Seiten. 19,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

 

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Radikal

Nächster Artikel

Eine wunderbare Wiederentdeckung

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Erlesene Tage

Kalender | Literaturkalender 2015 Im Wirbel der entgleisten Jahreszeiten kann man schon mal den Blick auf den anstehenden Wechsel verlieren. Noch ist Muße genug, das Kalenderangebot fürs nächste Jahr zu sichten. Dort erwartet uns ein Vorgeschmack auf neue, spannende Entdeckungen – nicht nur literarischer Art! Von INGEBORG JAISER

Auflösung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auflösung

Er sehe sich Irrwegen ausgesetzt, sagte Farb, Sackgassen, täuschenden Abzweigungen, wohin das führe, es würden falsche Fragen gestellt.

Zufall, nein, sagte er, das sei kein Zufall und ebenso wenig ein Anzeichen von Demenz, es würden falsche Fährten gelegt.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Tilman schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Absicht, sagte er, das geschehe mit voller Absicht, die Öffentlichkeit werde auf Glatteis geführt.

Wenn dem Esel zu wohl werde, sagte Tilman, gehe er aufs Eis tanzen.

Annika lächelte. Man wisse sich nicht anders zu helfen, sagte sie.

Edens verschlossene Tür

Kurzprosa | Cornelia Schleime: Das Paradies kann warten Cornelia Schleime hat mit ›Das Paradies kann warten‹ ihren ersten Erzählband veröffentlicht. Als wunderbare Künstlerin ist sie schon lange bekannt, so schmücken ihre zarten, ätherischen und doch oft verletzend direkten Bilder auch die Erzählungen. In einer Mischung aus entrückter Verträumtheit und Bauarbeiterjargon schreibt sie vom Reisen, Kopulieren, Verlieren und Selbstfinden. VIOLA STOCKER ging ein Stück mit ihr.

Meer

Lite Ratur | Wolf Senff: Meer Das Meer ist tief, besonders zur Mitte hin, sagt man, nur wer wüsste zu sagen, wo sich die Mitte des Meeres findet oder ob es überhaupt eine hat. Ich könnte im Wasser nicht leben, das Meer ist mir fremd, nein ich habe in meinem Leben nie geangelt, auch Freunde von mir angeln nicht, ich kenne das Angeln vom Hörensagen.

Auf Fang

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auf Fang

Sie waren bei Tagesanbruch in die Lagune aufgebrochen, in zwei Schaluppen, Pirelli und Mahorner im Bug, Eldin hatte gleich mit der ersten Harpune einen Treffer gelandet, es wurde ein erbitterter Kampf, die übliche blutrünstige Routine, der Ausguck mußte sich noch an derartige Bilder gewöhnen.