Bunte Denkmäler für schräge Helden

Comic | Simon Schwartz: Vita Obscura

Mit großem Einfallsreichtum hat der deutsche Zeichner Simon Schwartz seit 2012 abgefahrene historische Biographien für die Zeitung ›Freitag‹ als Comicseiten umgesetzt. Jetzt ist ›Vita Obscura‹ als überarbeitete Komplettausgabe bei avant erschienen. BORIS KUNZ hat schon lange nicht mehr so viel Freude mit einem Comic gehabt.

Vita ObscuraAn dieser Stelle muss, was ja eher selten geschieht, auch ein Wort über die Haptik verloren werden, die doch oft einen nicht zu unterschätzenden Teil des Lesevergnügens ausmacht. Natürlich geht es in erster Linie um Inhalte, aber es macht doch einen Unterschied ob man als Leser das, worin sie verpackt sind, gerne in den Händen hält. Und es ist schon eine Freude, ›Vita Obscura‹ in der Hand zu halten: Einen schön gestalteten Hardcoverband im selten benutzen Querformat, das hier an die alten Sonntagsseiten aus der frühen Glanzzeit des Comic-Strips erinnern soll. Um diese Seiten voll zur Geltung kommen zu lassen, ist jeweils nur die Vorderseite jedes Blattes bedruckt, so dass jedem Strip links nur eine jeweils passende Farbfläche gegenüberliegt. Diese Aufmachung ist ein Zeichen für die große, liebevolle Zuwendung, die dieses Comicprojekt von redaktioneller und verlegerischer Seite erfahren zu haben scheint, und die durchaus verdient ist.

Randerscheinungen der Geschichte

Das geht zurück bis in Jahr 2011, als die Redaktion des ›Freitag‹ dem jungen Comiczeichner Simon Schwartz (damals noch nicht mit dem Max und Moritz Preis für Packeis ausgezeichnet) zugestand, einmal pro Monat eine drittel Farbseite mit einer von ihm in kompletter künstlerischer Freiheit gestalteten Comicseite zu füllen, die sich jeweils mit dem Lebenslauf einer besonderen historischen Persönlichkeit beschäftigen würde. Dabei geht es nicht um die großen Figuren der Weltgeschichte, sondern um die absurden Randerscheinungen der letzteren: um seltsame Außenseiter, komische Käuze, unbesungene Helden, tragische Verlierer, in Vergessenheit Geratene, auf der Strecke Gebliebene. Dies kann die Geschichte von Chang und Eng Bunker sein, auf die der Ausdruck »siamesische Zwillinge« zurückgeht, der völlig vergessene Religionsstifter des Manichäismus, der berühmteste Kunstfurzer des 20. Jahrhunderts oder eine Krankenschwester, die nicht nur den Untergang der Titanic, sondern auch zwei weitere Schiffshavarien überlebte.

Eröffnet wird der Reigen von Joshua Norton, einem Stadtstreicher aus San Francisco, der sich selbst zum Kaiser von Amerika ernannte, und der es immerhin als Figur in Mark Twains ›Huckleberry Finn‹ geschafft hat und als Inspiration für den ›Lucky Luke‹-Band ›Der Kaiser von Amerika‹ diente. Dass einem die meisten der übrigen porträtierten Gestalten nicht auch schon aus diversen anderen Publikationen oder Filmen bekannt sind, verwundert einen ebenso wie, die einzelnen Biographien einen amüsieren oder anrühren. Was Simon Schwartz da in nüchternem, lakonischem Erzählton in meistens sechs oder sieben Panels erzählt, das könnte in manchen Fällen auch zu einem Monumentalfilm taugen (etwa die ›Katharsis des Konquistadors‹), zum Historiendrama (wie das Leben des Alan Turing), oftmals aber zur großartigen Satire (wie das Leben des John Law, der das Papiergeld in Frankreich einführte und die erste Spekulationsblase der Menschheitsgeschichte verursachte).

Ehrgeizige Umsetzung

Es ist also allein schon erstaunlich, was Schwartz für historische Perlen ausgegraben hat (es sei hier einfach vertrauensvoll angenommen, dass seine Recherche gründlich und korrekt war, auch wenn es dem Lesevergnügen wenig Abbruch täte, wären sie nur gut erfunden) – doch damit ist noch kein Wort über die Umsetzung verloren. Würde Schwartz seine prägnanten Kurztexte einfach nur in ein paar Panels illustrieren, wäre das Ganze auch schon schön zu lesen, aber der zweite Teil des großen Lesevergnügens entsteht durch seine phantasievolle Umsetzung, sowohl was die Aufteilung der Panels angeht (mal klar geordnet, mal durcheinander, mal als Union Jack arrangiert, oder als Querschnitt durch ein Gebäude), als auch die Gestaltung der Zeichnungen: Ob grobe Skizzen mit Buntstift oder Kohle, Collagen aus ausgeschnittenen Figuren, Wasserfarben oder Rasterdruck, es ist alles dabei, was man sich vorstellen kann, bis hin zu einer Seite, für die man sich erst eine 3D-Brille basteln muss (Ein Tipp unter Comicfans: Man kann auch die aus ›The Black Dossier‹ benutzen).

Natürlich hat die Gestaltung immer etwas mit dem Thema der jeweiligen Biographie zu tun, sodass das Spiel mit der Form den Inhalt nicht erdrückt – auch wenn man natürlich einen gewissen sportlichen Ehrgeiz des Zeichners durchaus attestieren muss. Das, was auf den ersten paar Seiten noch möglich war, nämlich eine Aufteilung der Seite in ganz normale Panels ohne jeden Schnickschnack, würde man gegen Ende der Reihe als Leser kaum noch akzeptieren. Hier hat Simon Schwartz die Latte, über die er in den letzten zwei Jahren einmal pro Monat springen musste, sehr hoch gelegt. Seine typische Handschrift ist unter all den verschiedenen Techniken und Gestaltungsformen dabei doch immer deutlich zu erkennen. Sein Stil bleibt immer etwas abstrakt – das Dargestellte stellt keinen Anspruch auf szenische, historische Genauigkeit, sondern ist symbolhaft überhöht wie bei einem Zeitungscartoon. Die Zeichnungen beschreiben die jeweilige Epoche, indem sie sich ihrem Stil anpassen, nicht indem sie diese akkurat und fotorealistisch wiedergeben würden.

In seiner bunten Vielfalt wirft ›Vita Obscura‹ nicht nur Schlaglichter auf die erstaunliche Absurdität, auf Komik und Tragik, aber auch auf die stille Größe der menschlichen Existenz, sondern lässt gleichzeitig das Medium Comic als fantasievolles Ausdrucksmittel hochleben. Damit gehört dieser Band zu dem Schönsten und Lesenswertestem, was der Deutsche Comic in der letzten Zeit hervorgebracht hat.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Simon Schwartz (Zeichnungen und Text): Vita Obscura
Berlin: avant-Verlag 2014
72 Seiten, 19,95 Euro

Reinschauen
Leseprobe
Homepage von Simon Schwartz

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wie im Märchen

Nächster Artikel

Freiräume der Sehnsucht

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Die Kunst als Ausweg

Comic | Tom Tirabosco: Wunderland Was macht ein Comiczeichner, dem die Ideen für einen neuen Graphic Novel fehlen? Richtig: Er zeichnet seine Autobiographie, am besten seine Kindheit. Zumindest scheint das bei dem schweizerisch-italienischen Künstler Tom Tirabosco der Fall zu sein, der seine relativ banale Kindheit in dem Comic ›Wunderland‹ verfasst hat, sie aber dafür mit tollen Zeichnungen und interessanten Stilmitteln präsentiert. PHILIP J. DINGELDEY hat sich den Comic angeschaut.

Mister Wonderful und die Liebe

Comic | Daniel Clowes: Mister Wonderful ›Mister Wonderful‹ heißt Marshall mit Vornamen und steckt am Ende seiner Midlife-Crisis. Comic-Künstler Daniel Clowes schickt den verschrobenen Kauz zu einem Blind Date – und lässt seine Leser herzklopfend mitfiebern. Von CHRISTIAN NEUBERT

H für Husarenstück

Comic | Miéville/Santolouco/Burchielli: Dial H – Bei Anruf Held 1: Neue Verbindung Der bekannte Fantasyautor China Miéville hat Bei Anruf Held, eine der absurdesten Superheldenreihen der 80er Jahre, wieder aufleben lassen, und macht mit einem kühnen erzählerischen Spagat vor, wie man etwas gleichzeitig ernst und auf die Schippe nehmen kann.BORIS KUNZ hat sich auf diese Tour de force eingelassen.

Menschliche Dämonen und dämonische Menschen

Comic | Miguelanxo Prado: Die Lethargie

Es ist der uralte Kampf zwischen Gut und Böse, der vor allem aus dem Fantasy-Genre nicht wegzudenken wäre. Dabei scheint es immer offensichtlich, wer der Held und wer der Bösewicht ist. Aber was, wenn die Bösen gar nicht wirklich böse sind? Prado hinterfragt in dem Comic ›Die Lethargie‹ (Carlsen Verlag) das Verhältnis zwischen Gut und Böse, die Rolle des Menschen im Universum und dessen Auswirkungen auf das Gleichgewicht der Natur. Von JANA FEULNER

Evolution der Bilderwelten

Comic | Mézières / Christin: Valerian und Veronique (Gesamtausgabe)

Dass die Sciene Fiction-Serie Valerian und Veronique, die jetzt von Carlsen neu aufgelegt wird, einmal revolutionär gewesen sein mag, erschließt sich heute nicht sofort. Das macht ihre Lektüre aber nicht weniger lohnenswert – findet BORIS KUNZ