TITEL-Thema | Brasilien 2014
Sogar dem Kommentator brechen die Sehnsüchte durch und er schwärmt von der Kultur des Lebens in Costa Rica, wo niemandem die Zeit durch die Finger rinnt, sondern sie ohne Not und Ende verfügbar bleibt und die Spieler sich durch nichts hetzen lassen. »There is a crack in everything/ That’s where the light gets in« (Leonard Cohen). Weist der Fußball in seinen schönsten Momenten womöglich doch über sich hinaus: Ein Spiel, das Horizonte öffnet? Hinzu kommt: Es ist erstaunlich, wie abrupt sich Stimmung verändert, sobald die Spiele beginnen. Von WOLF SENFF
Man darf zuvor doch kurz fragen, weshalb es überall »FIFA Fußballweltmeisterschaft« heißen muss. Antwort: Die Altherrenriege hat das als juristisches Markenzeichen verordnet. Da lassen sich einige Dollar/Rubel/Euro herauspressen, für solche Leute ist die WM eine reife Zitrone, das ist die Welt, in der sie leben, genug davon.
Für die alte Garde keine Chance
Es gibt die erwähnten Momente wirklich, Fußball kann so vielfältig wie das Leben sein. Zunächst wollte man schier verzweifeln an den äußeren Umständen, unter denen das Spiel erdrückt zu werden droht, und wenig später sah man bei Spanien gegen die Niederlande fasziniert zu, wie die eingefahrene spanische Routine zerpflückt wurde. Nicht nur für Arjen Robben sind das die erhebenden Momente, die Genuss verschaffen. Dafür lebe er, fügte er hinzu. Erhebend? Gewiss, sie erheben auch den Zuschauer über den grauen, eintönigen Alltag, sie zerstäuben die Langeweile, sie stiften Spannung.
Das Spiel Spanien vs. Niederlande war noch weit mehr. Der Monarch war gealtert, nun wurde er entzaubert, genauer: Der Zauber, der jahrelang gewirkt hatte, war fadenscheinig geworden, brüchig, kraftlos. Eine herrliche, alte Erzählung. Der neue, junge Prinz stößt den ergrauten König vom Thron, unerwartet und erst nach erbittertem Kampf, der Prinz weist über die rituell vorgeschriebenen neunzig Minuten lang nach, dass er das Spiel besser beherrscht, er demütigt – van Persie! Robben! – die schwache, hilflose Abwehr und lässt der alten Garde keine Chance. Das Publikum geht begeistert mit, gibt Riesenapplaus, das wollen sie sehen.
Ein Lichtblick
Es ist wahr, das sind Spiele der Art, dass wir FIFA, Blatter, Hoeneß, Beckenbauer, das ganze wirre Fußball-Universum am liebsten vergessen möchten. Es sind Spiele, die – Brasilien – alles Elend für neunzig Minuten aus der Wahrnehmung drängen und uns mit ihrer Erzählung einen befreienden, gar erlösenden Blick verschaffen. Nein, dauerhaft wird das nicht sein. Es ist ein Lichtblick, als ob es eine Ahnung von befreitem Leben wäre.
Das Spiel Costa Ricas gegen den alten Meister Uruguay besaß dieselbe Färbung, die jugendliche Frische, den lebendigen Kampfgeist, der sich gegen verkrustete alte Strukturen behauptet und durchsetzt, so bereitet Fußball Vergnügen, mehr davon, und auch das erste Spiel der deutschen Mannschaft war ungewohnt frisch und lebendig und lässt auf heitere Tage hoffen.