»Buchtitel Nr. 73: Es könnte ein bisschen wehtun«

Jugendbuch | John Corey Whaley: Hier könnte das Ende der Welt sein

Die zweite Leiche, die der 17jährige Cullen in seinem Leben zu Gesicht bekommt, ist die seines Cousins Oslo. Ein vorhersehbarer Drogentod. Dabei ist sonst in Lily, einer verschlafenen Kleinstadt in Arkansas, nichts los. Das ändert sich. Von ANDREA WANNER

Whaley_24507_MR.inddEs ist so wenig los, dass Cullen sich zur Unterhaltung das »Was, wenn«-Spiel ausdenken muss. Und Buchtitel für das, was geschieht und nicht geschieht, die seinem Leben ein bisschen Spannung und Glanz verleihen. Fast schon sarkastisch schildert der 17jährige die lähmende Langeweile, den Dauerfrust, das eintönige Warten auf etwas, was nie geschehen wird. Und dann geschieht doch etwas: Sein jüngerer Bruder Gabriel verschwindet. Suchtrupps rücken aus, die Eltern warten auf ein Zeichen, nichts geschieht.

Es ist der Sommer vor Cullens letztem Highschooljahr, die Zeit scheint stillzustehen, alles hängt in der Schwebe. Cullens Freund Lucas gelingt es, hin und wieder so etwas wie Normalität in die Tage zu bringen. Und passiert noch etwas: Ein Fremder kommt in die Stadt und behauptet, in der Gegend von Lily den ausgestorbenen Lazarus-Specht entdeckt zu haben. Während nun auf der einen Seite ein wahrer Hype um das Tier einsetzt, viele Jungs sich eine entsprechende Frisur schneiden lassen und der Lazarus-Burger erfunden wird, wird Cullens Verbindung zum realen Leben immer brüchiger. Vielleicht rettet ihn ein Flirt, ein Verhältnis mit einem Mädchen, das eigentlich unerreichbar scheint und der Trostlosigkeit des Ortes bereits entflohen war.

Um Cullen herum zerbricht die Welt, verzweifeln seine Eltern an der wochenlangen Ungewissheit um das Schicksal ihres zweiten Sohnes. Ist er noch am Leben? Wurde er entführt und längst ermordet? Cullen trägt fast täglich eines der T-Shirts von Gabriel und denkt über den Bruder, der so ganz anders ist als er, nach. Gabriel, der mit einem Buch zufrieden ist, mit Musik, die er hört, oder mit seiner Freundin Libby, wenn er mit ihr unterwegs ist. Er hat nicht Cullens Hunger nach Leben, nach all dem, was Cullen in Lily fehlt und dem er wütend und unglücklich zugleich hinterherläuft.

Man braucht Geduld für John Corey Whaleys Roman, der sich sperrig und kantig zeigt beim Lesen. Die Zeit, zähflüssig wie Sirup, vergeht schleppend, das Leben in Lily in seiner ganzen Langeweile und Hoffnungslosigkeit überkommt einen beim Lesen. Nichts geschieht. Falsch, es geschieht eine Menge, aber es sind auf den ersten Blick unspektakuläre Dinge, die unverbunden aneinandergereiht werden. Was ist der Sinn all dessen? Was ist der Sinn des Lebens überhaupt? Eine Frage, die am Ende auch Cullen stellen wird.

Ein zweiter Handlungsstrang durchzieht das Buch, die Geschichte von Benton Sage, einem jungen Mann, der als Missionar nach Äthiopien geht und scheitert. Die beiden Stränge laufen parallel nebeneinander her und beim Lesen fragt man sich, was das Ganze mit Cullen und seiner Familie zu tun hat.
Wie gesagt: Man braucht Geduld für dieses Buch – das Debüt von John Cory Whaley, subtil übersetzt von Andreas Jandl – und seine differenzierten Figuren, die so alltäglich wirken, dass es diese scheinbare Banalität ist, die ihnen beim Lesen zum Verhängnis werden kann.

Man muss genau hinschauen, um zu entdecken, was da geschieht. Man muss sich auf Cullen einlassen, auf seine Eltern, auf das langweilige Kaff, das Jugendlichen nichts zu bieten hat. Wenn man das schafft, entdeckt man hinter der Fassade eines der besten Jugendbücher dieses Sommers, das sich sperrig dem Lesenden entzieht und dabei so viel zu erzählen hat über Liebe und Verlust, über Hoffnung und Enttäuschung, über das Erwachsenwerden und über einen ausgestorbenen Vogel, dem alle nachjagen.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
John Corey Whaley: Hier könnte das Ende der Welt sein
(Where things come back, 2011)
Aus dem Englischen von Andreas Jandl
München: Hanser 2014
2014 Seiten. 15,90 Euro
Jugendbuch ab 16 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zuckersüß und mächtig spannend

Nächster Artikel

Anatomie physischen Grauens

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Pasta und Pizza – in Wales

Jugendbuch | Giancarlo R. Gemin: Café Morelli Italien und Wales – das ist keine Kombination, die man landläufig erwartet. Giancarlo Gemin, Waliser mit italienischen Wurzeln, versteht es, die ungewöhnliche Mischung auszunützen. Für eine feine Geschichte, in der es nicht nur ums Essen geht. Von MAGALI HEIẞLER

Einladung zur Toleranz

Jugendbuch | Julius Thesing: You don’t look gay

Vielleicht war ich lange sehr naiv. Schwule und Lesben in unserer Gesellschaft? Nicht wirklich ein Problem. Klar, es gab und gibt Menschen mit Vorurteilen, aber im 21. Jahrhundert ist das doch wohl eine verschwindende Minderheit. Von ANDREA WANNER

Alles andere als sicher

Jugendbuch | Patrycja Spychalski: Auf eine wie dich habe ich lange gewartet Liebesgeschichten in Jugendbüchern waren lange Zeit Geschichten von einem Paar, das aus einem Mädchen und einem Jungen besteht. Inzwischen hat sich der Blick etwas erweitert und es gibt auch Geschichten, in denen das Paar aus zwei Mädchen oder zwei Jungen besteht. Was sich nicht geändert hat, ist die Grundüberzeugung, dass junge Menschen genau wissen, ob sie sich zum eigenen oder zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen. Ist das wirklich so sicher? Patrycja Spychalski stellt in ihrem fünften Roman genau diese Frage. Von MAGALI HEISSLER

Erzählerisches Chaos

Jugendbuch | Johannes Groschupf: Das Lächeln des Panthers Ein junges Mädchen, ein altes Hotel und ein dunkles Geheimnis, das klingt nach guter Krimi-Unterhaltung, perfekt für gemütliche Stunden auf der Couch. Noch dazu von Johannes Groschupf, da sollte man auf das Beste gefasst sein. Leider hat er in sein jüngstes Buch Das Lächeln des Panthers viel zu viel hineingepackt und erzählerisches Chaos angerichtet. Von MAGALI HEISSLER

Einfach davonfliegen

Jugendbuch | Grit Poppe: Alice Littlebird

1876 wurden in Kanada die ersten Internatsschulen, sogenannte Residential Schools gegründet. Sie wurden für die Kinder der Ureinwohner der Cree, ein indigenes Volk der Indianer Nordamerikas eingerichtet. Erklärtes Ziel war es, »to kill the Indian in the child«. Grit Poppe machte daraus einen beeindruckenden Jugendroman. Von ANDREA WANNER