Roman | Paolo Giordano: Der menschliche Körper
Jetzt, da Europa zu einer eigentümlichen Insel des Friedens inmitten des Krieges geworden ist, erinnert uns ein junger italienischer Physiker daran, dass es im Leben immer um grundlegende Wahlmöglichkeiten geht, die unsere Existenz nachhaltig beeinflussen. Paolo Giordano erzählt in seinem zweiten Roman Der menschliche Körper vom Schicksal einer Gruppe italienischer Soldaten, die bei ihrem Afghanistan-Einsatz Entscheidungen treffen, die das Leben aller völlig verändern. VIOLA STOCKER wagt sich an die Grenzen des körperlich Erträglichen.
Mit dem derben Vokabular der einfachen Soldaten vom italienischen Zug »Charlie« bringt Giordano dem Leser das Grauen des modernen Krieges nahe. Der Aufbau des Romans Der menschliche Körper folgt einer eher klassischen Linie. Nur ganz am Beginn wird die Schlussszene wiederholt, die sich entsprechend im Bedeutungsgehalt ändert.
Bei einer Parade in der Kaserne von Belluno unterhält sich Oberleutnant Egitto mit Oberst Ballesio über Kindererziehung und Burn Out. Ansonsten bleibt die temporäre Gestaltung logisch aufgeteilt in ein Davor und Danach, die Katastrophe geriert zum Mittelpunkt.
Normalität in Zeiten der Ausnahme
Giordano verwendet sehr viel Zeit darauf, seine Charaktere vorzustellen, die alle klar gezeichnete Typen sind. Bei dem Versuch, die Soldaten als sozialen Durchschnitt darzustellen, mit all ihren eigenen Problemen und Schwächen, entstehen Längen, die eigentlich völlig unnötig sind. Fast zwei Drittel des Plots beschäftigen sich mit dem Vorleben der Soldaten, Katastrophe und Schluss beschränken sich auf ein ernüchterndes weiteres Drittel.
Zentrale Figur ist Alessandro Egitto, Militärarzt und ungeliebter zweiter Sohn überehrgeiziger Eltern. Es ist hier schade, dass nicht jeder den Roman in der Originalsprache lesen kann, denn Egitto, den Oberst Ballesio noch im Scherz mit »Marocco« verwechselt, ist letztendlich jener Arzt, der den Exodus des Dritten Trupps Charlie zu verantworten hat. Ungleich Mose aber, der sein Volk retten konnte, dafür aber das Gelobte Land nicht schauen durfte, kann Egitto seinen Trupp nicht erlösen, kehrt jedoch selbst geläutert heim.
Illusion sauberer Kriege
Zusammen mit Egitto und Ballesio geraten noch der verantwortungsvolle Zugführer René, der naive Ietri, der cholerische Cederna, Camporesi, ein Vater, Di Salvo, der Sarde Torsu und die Soldatin Zampieri in die Mühlen des vermeintlich sauberen Krieges. Sie verbringen die ersten Wochen in den Ruinen eines Camps, das sie mühsam renovieren und in dem sie versuchen, eine Art Alltag im Krieg zu leben. Vorgeschichten und Handlungen im Hier und Jetzt vermengen sich. Alles scheint gut zu gehen, bis durch unglückliche Umstände eine Lieferung von Lebensmitteln durch eine Bruchlandung verloren geht. Der darauffolgende Einkauf auf einem lokalen Markt entpuppt sich als verheerend.
Das ganze Lager fällt einer Infektion zum Opfer, die verdorbenem Fleisch anzulasten ist. Egitto hat alle Hände voll zu tun und die Soldaten, die eben noch ihre Bekanntschaften zu Hause via Telefon und Internet gepflegt hatten, sehen sich auf ihren nackten Körper zurückgeworfen. Doch nicht genug, ein Sandsturm beschädigt das Lager und islamische Extremisten nutzen die offensichtliche Schwäche der Soldaten, um das Lager zu beschießen. Ganz plötzlich ist der Krieg hautnah zu spüren und die westliche waffentechnische Überlegenheit verliert sich in den gesundheitlichen Problemen der Besatzung.
Lebensgefahr spürbar gemacht
Die so traumatisierte und geschwächte Truppe wird bald darauf mit einem weiteren Konflikt konfrontiert. Afghanische Kollaborateure wurden von Islamisten bedroht, einer ihrer Angehörigen enthauptet. Sie möchten nun das Lager verlassen. Oberst Ballesio ordnet für ihren Abzug militärischen Schutz an. Egitto, der einzige ortskundige Soldat, erwacht aus seiner betäubungsmittelbedingten Lethargie und erhebt Einspruch gegen die Entscheidung Ballesios. Doch ausgerechnet seine ehemalige Geliebte Sammartino, Mitarbeiterin beim militärischen Geheimdienst, fällt ihm in den Rücken und befürwortet den Einsatz.
Man spürt die nahende Katastrophe, als sich der Zug auf den Weg durch ein uneinsehbares Tal macht. Aufmerksame Leser erinnern sich, wie Oberst Ballesio zu Beginn Egitto fragte, ob es denn wahr sei, dass in jenem Tal über Nacht rote Rosen blühen würden. Als Zampieris Militärfahrzeug in einen Graben fährt, trennt sich der Zug. René übernimmt die Verantwortung und führt den restlichen Trupp an. Was nun geschieht, resultiert aus vielen kleinen falschen Entscheidungen, die jeder einzelne getroffen hatte. Zampieri, die den Jeep in die Grube fährt. René, der den Schlafplatz mit Camporesi tauschen möchte. Torsu, der, von Darmproblemen geplagt, seinen Wagen unerlaubt verlässt.
Das Tal der roten Rosen
Plötzlich erblühen doch noch jene Rosen, von denen anfangs die Rede war. Als der Trupp am nächsten Morgen seinen Weg wieder aufnimmt, blockieren Schafe die Straße. Auf das zeitgleich einsetzende Feuergefecht aus dem Hinterhalt ist niemand vorbereitet. Mehrere Wagen werden zerschossen, fast alle sterben. Egitto, René, Zampieri und Cederna überleben. Es ist Egitto, der in der Katastrophe die Nerven behält und die Verwundeten versorgt, die Toten bergen lässt und den Abtransport organisiert.
Ausgerechnet er wird letztendlich wegen Fehlverhaltens angeklagt und lädt die Schuld auf sich, ein Erlöserverhalten eher für das eigene Schicksal als für das seiner Kameraden, von denen niemand ist wie vorher. Militärpsychologen und Familien scheitern an der Aufgabe, die traumatisierten Soldaten zurück in eine westliche bürgerliche Realität zu holen. Das Attentat und der Krieg haben jeden einzelnen verändert. René verlässt die Truppe, verliebt sich in Camporesis Witwe und wird Kellner, Cederna reift zum brutalen Oberstleutnant, der, um sich abzureagieren, eine Militärangestellte vergewaltigt. Die Toten hinterlassen unfüllbare Lücken.
Gereift in der Katastrophe
Paolo Giordano schreibt dann am eindringlichsten, wenn er den menschlichen Körper in seine Einzelteile zerlegt. Sei es durch Krankheit, Sex oder Krieg. Erst dann gelingt ihm das Porträt des so anfälligen menschlichen Organismus. Um diese existenzielle Krise zu beschreiben, hätte es des langen Vorspanns nicht bedurft. Auch der Nachhall verläuft ernüchternd. Dass ein menschlicher Körper nach einem Attentat nicht funktionieren kann wie zuvor, erschließt sich fast von selbst.
Dennoch geht der Roman an die Nieren, gerade weil er sich von der klassischen Kriegsliteratur des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts emanzipiert hat und sich mit der sauberen Cyberwarrealität unserer Tage auseinandersetzt. Die Botschaft ist entsprechend simpel: Egal, mit wie viel Intelligenz, Waffentechnik und Ethik ein Krieg geführt wird, er greift jeden einzelnen menschlichen Körper, der daran auch nur entfernt beteiligt ist, in seiner Grundfestung an. Weil die Welt aber ist, wie sie ist, gibt es keinen moralischen Zeigefinger zum Schluss, die ehemaligen Soldaten mutieren nicht zu Pazifisten. Die Grausamkeit ohne Happyend hinzunehmen, das ist der eigentliche Kraftakt an Giordanos Roman.
Titelangaben
Paolo Giordano: Der menschliche Körper
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Reinbek: Rowohlt 2014
416 Seiten. 19,95 Euro