Ost-westlicher Divan

Roman | David Wagner: Verkin

Eine flauschig-weiße Katze mit zwei unterschiedlichen Augenfarben setzt den Anfangspunkt und den Hauptakzent in David Wagners neuem Roman. Als wäre sie das perfekte Accessoire für die Kosmopolitin und Grenzgängerin Verkin, einer charismatischen Armenierin mit vielen Gesichtern und einer schillernden Biographie, im Transit zwischen den Kulturen. Von INGEBORG JAISER

Wer ist Verkin? Diese außerirdisch wirkende Gestalt mit silbrigem Haar und metallisch glitzerndem Paillettenkleid, die unvermutet auf einer sommerlichen Gartenparty in Berlin auftaucht, mit einer schneeweißen Katze auf dem Arm? Ein fremder Gast, eine Abgesandte, eine Spionin?
Der Ich-Erzähler – nennen wir ihn probeweise David (denn sein Name wird erst auf Seite 63 zum ersten Mal genannt) – könnte ihr blind nachreisen, sie verfolgen, wenn nicht eine doppelte Mission in ihre Heimatstadt Istanbul führen würden. Der Plan, ein Buch über türkische Shopping-Malls zu schreiben, ist der eigentliche Anlass. Den nicht weniger skurrilen zweiten Auftrag lese man selbst nach.

Zwischen Orient und Okzident

Als David einige Wochen später das imposante Haus am Bosporus betritt (das Areal gehörte einst der Familie des ägyptischen Königs Faruk), ist er nicht nur vom flirrenden Schwebezustand zwischen Himmel und Wasser fasziniert, sondern auch von Verkins scheherazadegleichen Erzählungen. Von der Lebensgeschichte einer eleganten Armenierin, die altersmäßig fast seine Mutter sein könnte: polyglott und kosmopolitisch, schon in jungen Jahren zwischen Istanbul, Gstaad, Beirut und Düsseldorf pendelnd, mehrsprachig sozialisiert und umfassend gebildet, fünf Mal verheiratet (wenn man frühe Verlobungen, ungezählte Loverboys und gelegentliche Ménages á trois abzieht) und mit einem geschäftstüchtigen Vater gesegnet, der einst die Türkei elektrifizierte, zwischen zahlreichen Lebensmittelpunkten wechselte, doch ohne jemals Verkins Mutter zu heiraten. Die Trauer um den Völkermord an den Armeniern bleibt jedoch ein dauerhafter Begleiter.

Es folgt eine fulminante Tour d`Horizon – halb Sightseeing-Trip, halb Recherchereise – mit Bosporusfähren, Überlandfahrten und Exkursionen zwischen Orient und Okzident, nicht nur entlang Verkins atemberaubender Vita, sondern auch auf den Spuren der wechselvollen 2000jährigen Geschichte der Armenier. Beginnend in Istanbul (»eine Wucherung, ein Riesenpilz, der über die Ränder zweier Kontinente wächst«), mal entlang der lykischen Küste, mal bis zum Vansee im äußersten Osten der Türkei, der Heimat der schneeweißen Katze, der wir schon im Prolog begegnet sind. Eindrucksvoller und lehrreicher könnte kein Wikipedia-Eintrag, kein Reiseführer ausfallen.

Märchenhafte Odyssee

Doch keine einzige Zeile langweilt den Leser. Wir fühlen uns mitgenommen auf eine märchenhafte Odyssee, als säßen wir auf der Rückbank der rasant gesteuerten SUVs und hörten Verkins beiläufigen Erläuterungen entlang der Route zu. Als speisten wir am Nachbartisch der Restaurants und lauschten heimlich den Gesprächen der Einheimischen. Als spazierten wir neben den unablässig plaudernden Protagonisten über Friedhöfe, Parks und Bazars. Als tauchten wir in heißen Thermalquellen zwischen plätschernden Unterhaltungen auf. Der Zauber liegt im gekonnten Kunstgriff, 21 Kapitel und fast 400 Seiten in ein angeregtes Gespräch – oder eher einen Monolog – zu packen, so lebendig und lebhaft, als sei nicht nur der Autor, sondern auch der Leser vor Ort anwesend. Und dennoch vermisst man dringend eine Landkarte, einen Straßenatlas zur Orientierung, um all die Ortswechsel und Reiserouten nachzuvollziehen. Look it up, würde wohl Verkin empfehlen.

Denn wer könnte jemals am Wahrheitsgehalt dieser schillernden Tausendundeine-Nacht-Geschichte zweifeln? Auch wenn David Wagner einiges in seinem Nachwort behutsam relativiert, beginnend mit dem Halbsatz: »Wäre dieser Roman das Protokoll, als das er sich ausgibt«. Dabei zeichnen sich viele Werke des 1971 in Andernach geborenen Autors durch entwaffnende Offenheit und Authentizität aus. Allen voran der ergreifende Bericht seiner Autoimmunerkrankung und Lebertransplantation (Leben, 2013 – geehrt mit dem Preis der Leipziger Buchmesse) oder das zärtliche Vaterporträt Der vergessliche Riese (2019), das den Bayerischen Buchpreis erhielt. Zahlreiche Förderungen und Aufenthaltsstipendien haben den jetzigen Roman ermöglicht. So weit aus der eigenen Umlaufbahn hat sich David Wagner noch nie hinausgelehnt. Doch vielleicht dürfen wir eines Tages auch das Ergebnis der Recherchereise durch türkische Shopping-Malls bestaunen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
David Wagner: Verkin
Reinbek: Rowohlt 2024
394 Seiten. 26 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu David Wagner in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein cleveres Elfchen

Nächster Artikel

Das verlorene Meisterwerk

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Immer einen Schritt voraus

Roman | Zhou Haohui: 18/4. Der Hauptmann und der Mörder

18 Jahre sind vergangen, seit ein kaltblütiger Killer, der sich Eumenides nannte und Menschen tötete, die sich schuldig gemacht hatten, ohne für ihre Taten bestraft worden zu sein, vergeblich von einer Spezialeinheit der Polizei gejagt wurde. Nun ist er wieder da und Hauptmann Pei Tao, der damals zwei der ihm liebsten Menschen verlor, schließt sich der wiedergegründeten Sondereinheit »18/4« an, um den ihn quälenden Albtraum endlich zu beenden. Doch auch diesmal ist der Mörder seinen Jägern ein ums andere Mal voraus. Und was noch schlimmer ist: Er scheint seine Verfolger besser zu kennen, als denen lieb sein kann, und immer genau über ihre nächsten Schritte im Bild zu sein. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein amerikanischer Mythos

Roman | Hernan Diaz: Treue

In seinem neuen Roman ›Treue‹ begibt sich der argentinische Schriftsteller Hernan Diaz auf die Spuren der Wahrheit und der amerikanischen Finanzmärkte des 20. Jahrhunderts. Von BETTINA GUTIÈRREZ

In den Träumen lesen

Roman | Peter Høeg: Durch deine Augen Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, die Gedanken anderer Menschen lesen und sichtbar machen zu können und durch deren Augen zu sehen. Genau darum und um den schmalen Grat zwischen subjektiver Erinnerung und faktischer Realität geht es im neuen Roman Durch deine Augen des dänischen Schriftstellers Peter Høeg. Von PETER MOHR

Hornbrillenwürschtl am Kilimandscharo

Roman | Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen

Der inzwischen 65-jährige Schriftsteller Matthias Politycki – bekannt geworden durch seinen Weiberroman (1997) und Ein Mann von vierzig Jahren (2000) – hat sich zuletzt vor allem als kosmopolitischer Welterkunder betätigt. 2005 war der auf Kuba angesiedelte Roman Der Herr der Hörner erschienen, acht Jahre später entführte er seine Leser in Samarkand, Samarkand nach Usbekistan. PETER MOHR hat Polytickis aktuelle Neuerscheinung gelesen.

Überrollt von der Macht der Menge

Roman | Juan Gabriel Vásquez: Wenn es an Licht fehlt

Obwohl ihn Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa schon vor einigen Jahren hochgelobt hat und seine Romane schon in 16 Sprachen übersetzt worden sind, ist der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez hierzulande noch weitestgehend unbekannt. In deutscher Übersetzung waren zuvor der Roman Die Reputation (2016) und die Erzählungen Lieder für die Feuersbrunst (2021) erschienen. Sein neuer Roman Wenn es an Licht fehlt verknüpft eine Familiengeschichte mit der Weltpolitik – mit dem China während der Kulturrevolution und den politisch instabilen, von blutigen Kämpfen geprägten Verhältnissen in Kolumbien. Von PETER MOHR