Die Bücher des norwegischen Erfolgsautors Karl Ove Knausgård eignen sich nicht für die Lektüre zwischendurch. Die Riesenumfänge und die ausfransenden Handlungsstränge erfordern jede Menge Ausdauer. Je tiefer man in die Romane des 55-jährigen Autors eindringt, umso anstrengender wird es – vergleichbar mit einer Bergtour. Vor dem Gipfel wird die Luft dünner, das Atmen fällt schwer. Von PETER MOHR
Zuvor hat Knausgård in sechs opulenten Bänden, die in über 30 Sprachen übersetzt wurden, über sich und sein Leben, über Gott und die Welt geschrieben und damit international eine stattliche Leserschaft gefunden. Nun hat Knausgård ein zweites Romanprojekt in Angriff genommen, dessen zweiter Teil (nach Der Morgenstern) jetzt auf Deutsch erschienen ist.
Die Handlung setzt im Jahr 1986 in Südnorwegen ein. Der 19-jährige Syvert ist vom Militärdienst zu seiner an Lungenkrebs erkrankten Mutter und seinem kleinen Bruder Joar zurückgekehrt. Einige tausend Kilometer entfernt ist in Tschernobyl ein Atomreaktor explodiert und hat eine verheerende Katastrophe ausgelöst. Knausgård lässt fünf Ich-Erzähler über einen Zeitraum von gut 40 Jahren berichten, in denen sich die Schicksale von Menschen in Norwegen und Russland auf teilweise sonderbare Weise verknüpfen.
Da ist der junge, fußballbegeisterte Syvert, der nach seiner Militärzeit bei einem Bestatter arbeitet und so auch den Umgang mit dem Tod kennenlernt, dann kommt die in Moskau lebende Biologin Alevtina hinzu (Syverts Halbschwester), die über Bäume und Pilze und ein nebulöses Kommunikationssystem in der Natur forscht, aber nach dem Genuss von halluzinogenen Pilzen, ihr Leben abrupt ändert. An ihrer Seite taucht die leicht schwermütige Lyrikerin Vasilisa auf, die sich geradezu exzessiv mit der russischen Philosophie des 19. Jahrhundert auseinandersetzt.
Und dann spielen noch Syverts jüngerer Bruder Joar, der später Astrophysiker wird, und der einleitende Erzähler Helge mehr oder weniger bedeutende Rollen. Jener Helge kann sich auf jeden Fall an den Unfalltod von Syverts Vater erinnern.
In seinen Träumen begegnet Syvert, dessen Geschichte des Jahres 1986 (mit wenigen Rückblicken) auf den ersten rund fünfhundert Seiten von Knausgård ausgebreitet wird, immer wieder seinem Vater. In einer Garage stößt er auf alte Unterlagen, in denen sich auch Liebesbriefe einer russischen Frau befinden, für die der Vater offenbar die Familie verlassen wollte.
Viele Jahre später treffen sich Syvert und seine Halbschwester Alevtina in Moskau. »War es denkbar, dass der Wald eine Form von Bewusstsein besaß, unendlich anders als unseres, so fremd, dass wir nicht einmal wussten, dass es existierte?«, fragte die Biologin. Was sie und ihre philosophierende Freundin Vasilisa (ein Essay aus ihrer Feder ist in die Handlung integriert) an krausen Gedanken absondern, erfordert reichlich Ausdauer und ein gewisses Faible für philosophische Drahtseilakte ohne Netz und doppelten Boden.
Es geht um den Menschheits-Traum von der Unsterblichkeit und die Verknüpfung mit wissenschaftlichen Forschungen, bei denen gefrorene Leichen kopfüber in russischen Kryo-Tanks hängen.
Knausgårds Affinität zur russischen Literatur und Philosophie ist hinlänglich bekannt. Dostojewski, Tolstoj, Pasternak, Marina Zwetajewa, einem ihrer Gedichte ist der Romantitel entlehnt, und viele mehr sollen hier eine Art gedankliches Spalier bilden.
Knausgård verknüpft Einzelschicksale mit nichts weniger als erzählerisch und essayistisch reflektierten Menschheitsfragen, die um Übernatürlichkeit, Unsterblichkeit und die Apokalypse kreisen.
Und dann ist da noch der Morgenstern aus dem Vorgängerbuch mit seinen wundersamen Kräften. »Es sah fast so aus, als ginge die Sonne wieder auf. Was in aller Welt war das?« Wenn der Morgenstern leuchtete, scheinen keine Menschen mehr zu sterben, so die geheimnisvolle Botschaft.
»Für mich geht es beim Schreiben und Lesen vor allem um Überschreitung«, hatte Karl Ove Knausgård 2019 bei seiner Tübinger Poetikvorlesung erklärt. Eine solche Grenzüberschreitung hat der Norweger mit seinem neuen Roman präsentiert. Inhaltlich und formal hat er wieder einen gewagten Spagat versucht – zwischen tiefgründigem Gedankenroman und origineller Stammtischphilosophie, zwischen gewagtem Erzählpuzzle und ausufernder Geschwätzigkeit.
Die Balance dabei zu finden obliegt jedem Leser. Dabei hatte das Buch so unbeschwert und unverfänglich begonnen – mit der Erinnerung an das Album Rockin‘ all over the world von Status Quo.
Titelangaben
Karl Ove Knausgård: Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
München: Luchterhand 2023
1050 Seiten. 30 Euro
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