Jeden Abend ruft Hegel an

Roman | Martin Walser: Spätwerk

Martin Walsers Energie ist bewundernswert. Mit nun fast 92 Jahren legt er das zweite Buch binnen eines Jahres vor – mit dem Titel ›Spätdienst‹. Wieder keine lineare Erzählung mit konventioneller Handlung, sondern ein assoziatives, ausschweifendes Gedankenkonvulut mit lyrischen und aphoristischen Sentenzen. Mal bissig, mal melancholisch, mal profund, mal kitschig. Genau so, wie in seinen beiden letzten Büchern ›Gar alles‹ (2018) und ›Der letzte Rank‹ (2017). Von PETER MOHR

Martin Walser - SpätdienstVor fünf Jahren hat der »Altmeister« vom Bodensee seinen letzten »Handlungs-Roman« vorgelegt. Die Inszenierung kreiste um den alternden Theaterregisseur Augustus Baum, der sich auf dem Krankenbett in die blutjunge Nachtschwester Ute-Marie verliebt hat. Mit dieser traurig-komischen Figur, die ihr Leben Revue passieren lässt, die dem Tod gerade noch einmal entkommen ist und dem Leben einen letzten Funken Glück entlocken will, hat sich Walser vom klassischen Erzählen verabschiedet.

Die Themen sind geblieben, wurden variantenreich und philosophisch-abstrakt in Szene gesetzt: das Alter als eine Art »Massaker« (wie es einst Philip Roth ausdrückte), der nahe Tod und der unstillbare Wunsch nach Sex.

»Es gibt keine Stelle, wo Jungsein an Altsein rührt oder in Altsein übergeht. Es gibt nur den Sturz.« Diese aphoristisch zugespitzte, ernüchternde Lebensbilanz zog Martin Walser schon 2016 im sterbenden Mann.

Seitdem wird das Selbstmitleid als tragendes Leid(t)motiv von A bis Z durch dekliniert. »Mall könne schreiben, aber er habe keine Einfälle«, hieß es über die Hauptfigur aus dem Vorgängerwerk Gar alles. Mit Martin Walser geht es bei der Lektüre dieses Bandes ähnlich. Er lässt die Buchstaben, ja die Wörter tanzen, legt beeindruckende verbale Pirouetten hin – aber er bewegt sich nicht von der Stelle, einem Dressurpferd bei der Piaffe nicht unähnlich. Bei Martin Walser ist das Schreiben inzwischen ein ritueller Akt, er hat die inhaltsleere Prosa perfektioniert und ist inzwischen der ungekrönte König der Placebo-Literatur. Ganz nach Motto »Ich schreibe, also bin ich« aus dem letzten Rank.

In seinen zutiefst melancholischen Selbstbefragungen geht es auch wieder um das Auseinderklaffen zwischen körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit und damit einhergehend um Vergänglichkeit und Abschied, um ein letztes Aufbegehren und den Bruch mit den (künstlerischen) Konventionen.

Der Wunsch, ein anderer sein zu wollen (»möchte aus Marmor sein«), zieht sich wie ein roter Faden durchs Buch. Die Sehnsucht nach einem Identitätswechsel (»möchte nicht sein, was ich bin«) führt bei Walser wiederholt zu prosaischen Rollenspielen und häufigem Wechsel vom »Ich« zum »Man«.

Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass Martin Walser ein ausgeklügeltes Verwirrspiel mit dem Leser treibt und die Grenzen zwischen Poesie und Kitsch nicht nur erkundet, sondern mit Vollgas überschreitet. Er schlüpft mal in das tiefsinnig-philosophische Gewand Samuel Becketts (»Nichts mehr wissen wollen von sich macht sofort unsterblich«), dann versucht er sich als kalauernde Ulknudel in den Fußstapfen von Karl Valentin. »Jede Angina ist ein Gedicht, acht Tage entsteht sie, acht Tage geht sie, aber sie reimt sich nicht.«

Fraglos ein albernes Spiel, und über Humor lässt sich bekanntlich trefflich streiten. Und dem »Gedicht« hat Walser noch einen Vierzeiler von ähnlichem Kaliber gewidmet: »Heute sitz ich mitten im Gedicht/und rühre mich nicht/ich lass es einfach keimen/wenn’s will, soll sich’s reimen.«

Das Buch ist durchzogen von solch putzigen, aber banalen Sprachspielen: »Ich bin viel weniger dagegen, ich bin fast dafür, auch für den Regen und das Geschwür.«

Konjunktive sind mal lecker, mal gegrillt – jeden Abend gibt es einen Anruf von Hegel, der »Mohn wächst auf dem Nacken«, Schmetterlinge sind aus Blei, und »grün wiehert die junge Welt«. Warum wohl nicht rot oder blau, fragt sich der um den tieferen Sinn ringende, etwas hilflose Rezensent?

Auf den letzten Seiten erleben wir dann, dass die Kritiker Iris Radisch und Burkhard Müller von Walser quasi den Ritterschlag der einzig wahren Interpreten erhalten, und es kommt auch ein wenig Licht ins Dunkel dieses abgründig-komischen, aber dennoch hoffnungslos verunglückten Buchs, wenn es heißt: »Früher oder später wird alles Kunst.«

Dann doch lieber später, denkt der entkräftete Rezensent und lässt seine emotionale Gefühlslage nach der anstrengenden Lektüre vom Meister Walser höchst selbst beschreiben: »Ich will mich nicht mehr regen,/ich will ruhn/ich will mich hinlegen/nichts tun.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Martin Walser: Spätdienst
Reinbek: Rowohlt Verlag 2018
208 Seiten, 20 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mona Kampe über Martin Walser in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Heldensage

Nächster Artikel

Ultimatives Schlachtengetümmel

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Feuilleton und digitaler Wandel

Roman | Johanna Adorján: Ciao

Wenn eine bekannte Feuilletonistin in ihrem Roman über eine männliche »Edelfeder« des Metiers schreibt, einen Blick in den inneren Zirkel einer großen Zeitung wirft und vehement verneint, dass es sich um einen Schlüsselroman handelt, dann birgt dies jede Menge Stolperfallen, und es ist äußerste Vorsicht geboten. Von PETER MOHR

Generation Leichtkraftrad

Roman | Kai Thomas Geiger: autoreverse Eine Jugend zwischen Mixtapes und Motörhead, zwischen Mopeds und Marlboro – und das Ganze auch noch in Stuttgart-Möhringen. Kai Thomas Geiger hält die Record-Taste gedrückt und spult das gute, wilde Leben zu Beginn der 80er Jahre in seinem Debütroman autoreverse noch einmal ab. Von INGEBORG JAISER

Schlaflos in Venedig

Roman | Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht

Die Sehnsucht nach Stille und Rückzug, nach klösterlicher Klausur, gehört wohl zu allen Schriftstellerfantasien und begleitet Leila Slimani bis zum Kreuzungspunkt zwischen Orient und Okzident. Der Duft der Blumen bei Nacht beschwört die Kraft der Poesie und der Literatur, entführt in entschwundene Gefilde und doppelte Identitäten. Von INGEBORG JAISER

Wirklich immer? – Political correctness

Roman | Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen Lange Zeit waren sie mit ihren Zelten dort: am Berliner Oranienplatz. Jenny Erpenbeck widmet sich in ihrem Roman den Flüchtlingen und beschreitet damit neue Pfade. Intensive Recherchearbeiten und Gespräche mit Betroffenen gingen diesem Roman voraus. Das Ergebnis: ein Buch, das wachrüttelt, tief bewegt und doch etwas verärgert. Jenny Erpenbecks ›Gehen, ging, gegangen‹ – rezensiert von TANJA LINDAUER

Eine Reise zum Mittelpunkt des Universums

Roman | Christopher Ecker: Fahlmann Wer sich an Christopher Eckers Roman Fahlmann wagt, muss reichlich Zeit einplanen. Zeit, das Universum und die Welt auf verschiedenen Ebenen zu erkunden, Zeit für Afrika, Zeit für ein Beerdigungsinstitut, für Paris – viel Zeit für Paris. VIOLA STOCKER unternahm einen Versuch.