Zu Beginn des nach Am roten Fluss (deutsch im Hamburger Argument Verlag 2017) zweiten Romans von Marcie Rendon um ihre 19-jährige Heldin Renee »Cash« Blackbear ist die am Moorhead State College gelandet. Mehr als für »Bio« oder »Psycho« interessiert sich die intelligente junge Frau, für die der meiste ihr hier begegnende Lehrstoff nur langweilige Wiederholung von bereits Bekanntem darstellt und richtige Freunde sich wohl auch nur schwer unter der College-Klientel finden lassen, allerdings für den Billardsaal auf dem Campus. Um ein bisschen Geld zu verdienen, fährt sie nicht mehr Mähdrescher wie in Rendons Erstling, sondern klemmt sich – inzwischen ist die Zeit der Zuckerrübenernte gekommen – in den Nächten hinter das Steuer eines Rübenlasters. Bis das Verschwinden einer Kommilitonin aus ihrem Psychologie-Kurs Cash erneut unfreiwillig mit einem Verbrechen konfrontiert. Von DIETMAR JACOBSEN
Cash Blackbear, die Heldin aus Marcie Rendons Romanerstling Am roten Fluss, ist Studentin geworden. Tagtäglich fährt sie von Fargo aus über den Red River ins Moorhead State College. Mit dem, was ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen treiben, hat sie allerdings nicht viel am Hut. Weder interessiert sie sich sonderlich für die von ihren Brüdern und Schwestern, den Native Americans, an den Universitäten organisierten Veranstaltungen, noch nimmt sie großen Anteil an dem, was alle anderen umtreibt. Die Mädchen interessieren sich für »freie Liebe, Gras und das Beenden des Vietnamkriegs«. Die »College-Macker, Sportskanonen aus siegreichen Kleinstadtmannschaften, hoffen auf den Sprung in irgendeine Profiliga«.
Ein Mädchen ist verschwunden
Cash hingegen spielt lieber Pool-Billard und gönnt sich über den Tag verteilt das eine oder andere Budweiser. In den Nächten fährt sie Rübenlaster und hat viel Zeit, über ihr eigenes Schicksal als eine zusammen mit ihren beiden Geschwistern der indianischen Mutter weggenommene und in etlichen Pflegefamilien aufgewachsene, ein bisschen menschenscheue, aber durchaus selbstbewusste junge Frau nachzudenken. Und weil sie in Sheriff Wheaton spätestens seit dem Verschwinden ihrer Mutter einen väterlichen Freund gewonnen hat, der alles tut, um ihr Fortkommen zu ermöglichen, ist sie auch bald wieder in eine Geschichte verstrickt, die ihre ganz besonderen, magischen Fähigkeiten erfordert.
Es ist ein quälender Albtraum, mit dem Rendons Heldin am Beginn von Stadt, Land, Raub aufwacht. Und er wird sie – mit leichten Variationen im Ablauf – noch mehrmals aus dem Schlaf schrecken lassen. Erst gaukelt er ihr vor, selbst verfolgt zu werden, doch dann verwandelt sich ihre Traumgestalt plötzlich in ein blondes Mädchen, das ihrem Verfolger vergeblich zu entkommen sucht und Cash verzweifelt um Hilfe anfleht. Dass dieser Traum tatsächlich mit sich in ihrem Lebensumfeld abspielenden tragischen Ereignissen zu tun hat, wird ihr erst nach und nach bewusst. Doch da befindet sie sich bereits im Fokus eines Mannes, der es nur auf den ersten Blick gut mit ihr meint.
Albträume und ein heimgekehrter Bruder
Alle sind sie blond, die Mädchen, die aus Cashs College und von anderen Einrichtungen der Umgegend verschwinden. Eine von ihnen, die Studentin Janet Tweed, hat Cash sogar persönlich kennengelernt. Als Sheriff Wheaton sie als Unterstützung zur Befragung der Familie dieses Mädchens mitnimmt, ist ihr sofort klar, dass es sich bei deren Verschwinden keinesfalls um eine Flucht aus bedrückenden Verhältnissen handeln kann. Etwas anderes muss passiert sein, etwas Verbrecherisches, das Janet daran hindert, in ihr Zuhause zurückzukehren.
Eine Rückkehr ganz anderer Art bringt im selben Moment Cashs Leben erst gehörig durcheinander, ehe sie sich langsam wieder daran gewöhnt, nicht mehr ganz so allein auf der Welt zu sein. Eines nachts nämlich steht plötzlich ihr Bruder vor der Tür. Wie sie selbst hat auch er, nachdem man die beiden Kinder ihrer Mutter nach einem von der im betrunkenen Zustand verursachten Verkehrsunfall wegnahm, eine Odyssee durch mehrere Pflegefamilien hinter sich. Am Ende landete er als Soldat in Vietnam. Nun ist er also für eine Weile wieder da, leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die ihn zeitweise zur Gefahr auch für Cash werden lässt, ist ansonsten aber ein verlässlicher Kamerad, mit dem sich die junge Frau von Tag zu Tag besser versteht und der noch dazu ihre Leidenschaft für Billard und Bier zu teilen scheint. Er, der als Fred zur Welt kam, dann von seiner Adoptivfamilie in Paul umbenannt wurde und inzwischen nur noch Mo – abgeleitet von Geronimo – gerufen wird, taucht im Übrigen im richtigen Moment im Leben seiner Schwester wieder auf.
»Die große böse Welt da draußen«
Stadt, Land, Raub spielt in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts abseits der großen Städte im Red River Valley in South Dakota. Für Renee Blackbear, die auf den Namen Cash hört, sind die »Twin Cities« St. Paul und Minneapolis »die große böse Welt da draußen«, mit der sie eigentlich nichts zu tun haben will. Als sie sich dennoch zusammen mit ein paar anderen Studenten und ihrem Professor auf den Weg in die beiden Städte begibt, um mit einem von ihr geschriebenen Essay an einem Wettbewerb teilzunehmen – sie fährt in ihrem eigenen Wagen und übernachtet auch lieber im Auto als mit den anderen zusammen im Studentenwohnheim –, erfüllen sich ihre Befürchtungen den Metropolen gegenüber prompt. Allein Cash ist viel zu clever, um nicht den Weg wieder heraus aus der Falle zu finden, in die sie gerät. Und fast nebenbei bringt sie dabei auch noch Licht in den Fall der verschwundenen Mädchen.
Titelangaben
Marcie Rendon: Stadt, Land, Raub
Deutsch von Jonas Jakob
Hamburg: Argument 2020
237 Seiten, 13 Euro
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